Im Booklet der CD kann man lesen, dass Sie derzeit nicht vorhaben, alle Symphonien Bruckners für Orgel zu bearbeiten. Wieso beschränken Sie sich auf ausgewählte Werke und wonach wählen Sie diese Werke dann aus?
Meiner Meinung nach sind nicht alle Bruckner-Symphonien in gleicher Weise für eine Orgelbearbeitung geeignet. Entscheidend ist für mich vor allem die musikalische Faktur einer jeden Symphonie. Und da gibt es doch wesentliche Unterschiede zwischen den elf Symphonien Bruckners. Vor allem die Fünfte, die Achte und die Neunte kommen für mich für eine Transkription in Frage. Die Fünfte ob ihrer kontrapunktischen Ausarbeitung, die Achte ob ihrer großartigen, teilweise auch orgelmäßigen Anlage und die Neunte ob ihrer kompositorischen Klarheit, oder man kann auch sagen: der Durchsichtigkeit und Abgeklärtheit eines typischen Alterswerks Bruckners.
Sie spielen die Bruckner-Orgelbearbeitungen in der Abteikirche von Ebrach in Franken ein, also in genau jener Kirche, die auch bei ihrer Gesamtaufnahme von Bruckners Symphonien mit Orchester der Hauptveranstaltungsort ist. Was bedeutet Ihnen dieser Ort? Ist er einfach nur die klangliche Idealumgebung für Ihre Aufnahmen oder ist es mehr als das, was Sie mit dieser Kirche verbindet?
Die Abteikirche des ehemaligen Zisterzienserklosters in Ebrach ist für mich ein ganz besonderer Ort. Im Herzen des Steigerwalds gelegen ist es nicht nur eine beeindruckende Kathedrale mit einer einzigartigen Atmosphäre, sondern auch ein spiritueller Kraftort. Seit frühester Jugend bin ich mit diesem imposanten Kirchenbau verbunden. Aber natürlich spielen auch akustische Überlegungen eine Rolle. Die Kirche verfügt über eine sehr individuelle Akustik, die auf der einen Seite eine Durchsichtigkeit zulässt, auf der anderen Seite aber auch einen gewaltigen Klangraum darstellt. Die Kirche ist frühgotisch und wurde später barock beziehungsweise frühklassizistisch ausgestattet. Die barocken Stuckaturen und Einbauten tragen wesentlich zur Klangbrechung und gleichzeitig zur Klangveredelung bei.
Wenn Sie die Orgelbearbeitungen von Bruckners Musik erstellen, haben Sie da immer auch den Klang der Ebracher Abteikirche im Kopf?
Nein, das empfände ich als zu einengend. Natürlich denke ich bei der Orgelbearbeitung eine Bruckner-Symphonie primär an ein großes Instrument mit zahlreichen klanglichen Möglichkeiten, vielleicht sogar eher im Sinne der französischen Orgelromantik. Aber da hat die Ebracher Eisenbarth-Orgel ja auch zahlreiche Möglichkeiten. Vor allem ist es mir aber wichtig, nicht das Orchester zu imitieren, sondern ein spezifisches, eigenes und – wenn man so will – ‘neues’ Werk im Sinne einer Orgelsymphonie entstehen zu lassen. Ansonsten würde die Orgel im Wettbewerb mit dem Orchester verlieren, da das Original gegenüber dem Imitat den Vorzug genießt. So registriere ich persönlich selbst teilweise ganz anders als es der Orchesterklang vorgibt, und koste stattdessen die klanglichen Möglichkeiten der Orgel aus.
Wie sieht konkret Ihre Arbeit aus? Sind Sie eher der Typ von Bearbeiter, der sich mit der Orchesterpartitur an den Schreibtisch setzt, am Schreibtisch einen Orgelauszug als Basis erstellt und dann probiert, wie es auf der Orgel funktioniert? Oder sind Sie eher der Praktiker, der sich direkt an die Orgel setzt und die Partitur der Orgelbearbeitung sozusagen am Instrument erstellt?
Wenn ich eine Orchesterpartitur lese beziehungsweise im Kopf mit mir trage und über eine Orgelbearbeitung nachdenke – oder besser gesagt: meditiere –, kristallisiert sich ziemlich schnell eine Vorstellung heraus, wie das Ganze auf der der Orgel realisiert werden könnte. Es ist also kein Klavierauszug und auch kein Orgelauszug, den ich da erstelle, sondern die klangliche Vorstellung gibt den Ton an. Es ist also nicht so, dass ich jede kleinste Nebenstimme eins zu eins übertrage, sondern ich gehe davon aus, was primär hörbar gemacht werden soll. Das musikalische Konzentrat ist für mich entscheidend, ohne dass natürlich Wesentliches verlorengehen soll. Es soll – wie gesagt – ein orgelspezifisches Werk entstehen. Und hier beginnt die eigentliche – wenn man so will: künstlerische Arbeit. Aber es gibt durchaus auch Passagen, die ich am Instrument direkt ausprobieren möchte.
Im vergangenen Jahr ist ein Buch von Ihnen erschienen, in dem Sie sich aus kunsthistorischer und architektonischer Sicht mit den Kirchenbauten Ihrer Heimatregion befasst haben. Ist die Kunsthistorik Ihre zweite große Leidenschaft neben der Musik?
Ich möchte nicht von einer zweiten großen Leidenschaft sprechen, sondern ich bin überhaupt an zahlreichen Themen im Zusammenhang mit Kunst und Kunsthistorie, Architektur, Geschichte, Theater interessiert. Über allem steht jedoch die Liebe zur Natur.
Mit Hinblick auf das bevorstehende Bruckner-Geburtstagsjahr 2024 liegt da die Frage natürlich nah, ob Sie als einer der bedeutendsten Bruckner-Exegeten der letzten Jahre nicht auch einmal Ihre Erfahrung mit Bruckners Symphonien literarisch verarbeiten wollen.
Diese Idee keimt tatsächlich bisweilen des Öfteren bei mir auf. Und ich wurde schon immer wieder darauf angesprochen. Das Thema Bruckner reizt mich nach wie vor. Ich würde es allerdings nicht unbedingt am Jubiläumsjahr 2024 festmachen. Für mich ist jedes Jahr in der Beschäftigung mit Bruckner ein gutes Jahr.
Sieht man sich die beeindruckende Liste von Veröffentlichungen an, die Sie in den vergangenen Jahren vorgelegt haben, ist das schon sehr beeindruckend: In manchen Jahren ist nicht nur ein, sondern sind gleich zwei Alben erschienen. Dazu widmen Sie sich auch noch der Kunstgeschichte, wie wir gerade gehört haben, und haben zudem noch andere Aufgaben. Wie machen Sie das?
Es sind meiner Meinung nach gar nicht so viele Veröffentlichungen, die pro Jahr erscheinen, gerade im Hinblick auf die CDs. Aber es kommt mir ja auch nicht darauf an, ein Album nach dem anderen zu publizieren. Ganz im Gegenteil! Ich möchte mir ganz bewusst für eine neue Einspielung Zeit nehmen. Diese Zeit ist wichtig, um in das jeweilige Werk einzutauchen – und eben nicht eine Aufnahme nach der anderen wie am Fließband zu produzieren. Jede musikalische Komposition, und erst recht jede Symphonie von Bruckner, ist ein einmaliges Werk, das einen ganz spezifischen Geist atmet und das eine intensive Auseinandersetzung erfordert. Musikalische Marathons haben mich noch nie begeistert, sondern eher abgeschreckt. Wie schön und wichtig ist es doch, sich in ein Werk versenken zu können!
Wenn Sie sich, der Sie nicht nur ein Bruckner-Fachmann und -Musiker sind, sondern vor allem ja auch ein Liebhaber der Musik Anton Bruckners, das Bruckner-Jubiläumsjahr 2024 einmal idealtypisch vorstellen, wie es Ihrer Meinung nach ablaufen sollte, was wäre da Ihre Idealvorstellung?
Jubiläumsjahre sind wichtig, weil sie immer wieder den Fokus auf einen Komponisten richten, wobei es vor allem unbekannte Komponisten eher verdient hätten, dass man deren Jubiläen feiert. Zumeist konzentriert man sich auf die eh schon bekannten Komponisten, die solche besonderen Jubeljahre eigentlich gar nicht nötig hätten. Wie es auch immer sei: Es ist auf jeden Fall sehr gut, wenn Bruckner 2024 im Mittelpunkt stehen wird. Eine Idealvorstellung für den Ablauf des 200. Geburtstages habe ich nicht. Wie gesagt ist für mich jedes Jahr, in dem Bruckner gespielt wird, ein gutes Jahr. Insofern freue ich mich, wenn Bruckner 2024 weltweit vermehrt aufgeführt wird, denn es ist vor allem seine Musik, die viele Menschen immer wieder zu Herzen gehen lässt.
In den kommenden Monaten werden wir auch erleben, dass die alten Zyklen der Bruckner-Diskografie wieder hervorgeholt werden. Gibt es da eine der älteren Aufnahmen, von denen Sie sagen würden: „Die schätze ich besonders“ oder die Sie vielleicht selbst sogar beeinflusst hat?
Wir Menschen sind immer das Produkt unserer Erfahrungen. Insofern wurde auch ich sicherlich durch meine Sozialisation und kulturelle Prägung sowohl direkt als auch indirekt beeinflusst. Meine ersten Begegnungen mit Bruckner erfolgten über die Aufnahmen von Eugen Jochum und Herbert von Karajan. So unterschiedlich beide waren, so sehr schätze ich beide. Das Wesentliche ist aber, dass es eine Überzeugung, einen Drang, eine Vorstellung und ein Fühlen ganz von innen heraus ist, wodurch Musik entsteht. Die Noten sind an und für sich lebloses Material, das erst durch die Menschen zum Klingen gebracht wird. Den Empfindungen, Gedanken oder Intentionen, die ein Komponist hatte oder hat, nachzuspüren, ist eine wunderbare Herausforderung und letztlich ein Geheimnis.
Was ist nach Ihrer Ansicht der größte Unterschied zwischen den Aufnahmen der Vergangenheit und der Art wie man Bruckner heute aufnimmt? Gibt es überhaupt so etwas wie einen zeitlosen Bruckner-Klang oder ist jeder Bruckner-Zyklus nicht immer auch ein Abbild seiner eigenen Zeit?
Jede Aufnahme setzt sich zum Ziel, möglichst authentisch den Klang einzufangen und wiederzugeben. Dass wir auch heute noch weit davon entfernt sind, ein Werk in einem bestimmten Raum zu einhundert Prozent authentisch auf Tonträger zu bannen, steht wohl außer Zweifel. Natürlich hat sich die Aufnahmetechnik immer mehr verbessert. Man denke an die ersten Versuche um 1900 und dann die gewaltigen Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Und die technischen Möglichkeiten werden weiter voranschreiten, sodass man in wenigen Jahrzehnten vielleicht unsere heutige Aufnahmetechnik belächeln wird. Aber das ist nicht entscheidend. Ich möchte auch überhaupt nicht die technischen Errungenschaften der heutigen Technik heruntersetzen. Ganz im Gegenteil: Die Art und Weise des Aufnehmens interessiert mich ungemein – und ich erinnere mich an viele fruchtbare Dialoge mit meinem Lieblingstonmeister Lutz Wildner. Entscheidend ist letztlich, ob es gelingt, den Geist einer Aufführung einzufangen. Und die Art und Weise, wie man ein Werk aufnimmt, ist auch das Resultat der jeweiligen Zeit und hat einen enormen Einfluss auf die Rezeption von Musik überhaupt. Glücklicherweise gibt es daher keinen zeitlosen Bruckner-Klang. Bruckners Musik hat so viele Facetten und birgt in sich einen so gewaltigen Schatz, dass sie genügend Raum lässt für die unterschiedlichsten Realisationen. Wie gesagt: zum Glück!