Kaum eine andere Sozialthematik dürfte in letzter Zeit die kulturelle Schöpfungskraft so angeregt haben wie das Thema Flüchtlinge. Es gibt viele Theater und Konzertsäle, wo es in der einen oder der anderen Form behandelt wird. Dieses Jahr widmete sich ihm das St. Olafs Festival in Trondheim mit einem Oratorium des schottischen Komponisten Alasdair Nicolson, das am 16. Juni auf den Orkney Inseln beim ‘St. Magnus Festival’ uraufgeführt wurde und am 28. Juli in Trondheim seine zweite Aufführung erlebte. Remy Franck berichtet aus der drittgrößten norwegischen Stadt.
Sinnigerweise trägt das Werk den Titel ‘Pilgrim’ und passte so hervorragend in den Kontext des Olafs-Festivals in Trondheim. Der Nidarosdom in Trondheim ist eine Pilgerstätte für die Christen Norwegens, weil dort der Heilige Olaf verehrt wird, der Norwegen christianisierte und dabei in einer Schlacht am 29. Juli 1030 den Märtyrertod starb.
Seither ist ‘Olsok’, das Olafsfest, ein nationaler Feiertag in Norwegen und ganz besonders in Trondheim, wohin bei dieser Gelegenheit Tausende Pilger kommen und auch am Festival teilnehmen, das mit Konzerten aller Gattungen, Theateraufführungen und religiösen Veranstaltungen ein multikulturelles Event ist, das über 150.000 Besucher zählt.
Eröffnet wurde das Festival dieses Jahr mit dem Oratorium ‘Pilgrim’, für das Nicolson die vom ‘Stabat Mater’ ausgehende Erzählung des Dramatikers Jon Fosse benutzte, in der ein Ehepaar auf der Suche nach einem sicheren Ort für sein neugeborenes Kind rastlos weiterpilgern muss. Zweifellos wird hier eine Parallele zu Maria und Joseph gezogen, wenn auch mit deutlich anderen Akzenten und einer Öffnung zur Flüchtlingsproblematik hin, die Fosse zufolge auch Gewalt begreift, weil der ‘Mann’ in seiner Erzählung zweimal tötet, um seiner Familie Sicherheit zu geben. Im Oratoriumstext kommt das wohl weniger explizit zum Ausdruck als in der dem Musikwerk zugrundeliegenden Erzählung, aber verschwiegen wird nicht, dass Gewalt Teil des Flüchtlingsdramas ist. Am Ende aber steht die ‘Frau’ zwischen den Fronten, verliert ihr Kind, wie Maria Jesus verloren hat und ist eben die ‘Mater Dolorosa’. So gesehen ist ‘Pilgrim’ eine Hommage an alle Frauen, die ihre Kinder verlieren.
Das Orchester der beiden Aufführungen beim Olafs-Festival und beim Magnus-Festival waren die ‘Trondheim Solistene’, gemeinsam mit den ‘BBC Singers’, der norwegischen Sopranistin Ann-Helen Moen und dem britischen Bassisten Simon Bailey.
Die ‘Trondheim Solistene’, deren Aufnahmen immer wieder im Pizzicato hervorragende Rezension bekommen und die wir nicht ohne Grund als eines der besten Streichorchester der Welt bezeichnet haben, waren bei dieser Aufführung besonders gefordert, weil sie im Grund die Hauptlast der musikalischen Darstellung trugen und unter der Leitung von Oyvind Gimse spieltechnisch ebenso brillierten wie mit musikalischer Ausdruckskraft. Das Musikmachen dieses perfekt zusammengeschweißten Ensembles hat etwas Unmittelbares und Wahrhaftiges, das man in anderen Formationen nur selten so ausgeprägt vorfindet.
Alasdair Nicolsons Musik ist dramatisch und leicht zugänglich, expressiv und einfallsreich genug, um während 70 Minuten die Aufmerksamkeit des Zuhörers wach zu halten. Während die beiden handelnden Personen, der ‘Mann’ und die ‘Frau’ in einem klaren Parlando-Stil singen, ist der kommentierende Chorgesang melodischer angelegt, und das Hauptgeschehen findet im Orchester statt. Das Orchester kommt nämlich zwischendurch immer wieder allein zum Einsatz, mit Zwischenspielen, die das Gesungene und dessen Stimmungen verlängern und musikalisch verdichten. Man kann sich durchaus vorstellen, dass der Komponist eine publikumswirksame Suite aus diesen Zwischenspielen ziehen könnte.
Die beiden Solisten, Ann-Helen Moen und Simon Bailey, sangen sehr prägnant und wegen vorbildlicher Artikulation sehr textverständlich. Das hinderte sie nicht daran, den Text dramatisch zu akzentuieren, und besonders Ann-Helen Moen sang durch ihre einfühlsame Gestaltung der Mater Dolorosa immer wieder sehr bewegend.
Auch die ‘BBC Singers’ waren ein tragendes Element der Aufführung: der 24-köpfige Chor sang äußerst transparent und bot Vokalgesang vom Feinsten.
Dasselbe Ensemble sang tagsdarauf in der Kirche ‘Unserer Lieben Frau’ in Trondheim ein bejubeltes a-cappella-Konzert unter der Leitung der schwedisch-französischen Dirigentin Sofi Jeannin, seiner designierten Chefdirigentin, die ihr neues Amt 2018 antreten wird. Zurzeit ist sie noch Leiterin der ‘Maîtrise de Radio France’.
Gleich in Frank Martins ‘Messe für Doppelchor’ zeigte der Chor mit phänomenaler Dramatik die Klangmacht dieses Werks, wodurch die textnahe Gestaltung durch den Komponisten sehr gut zum Ausdruck kam. Sofie Jeannin ließ mit dynamischen Extremen das sehr elaborierte Kyrie enorm rhetorisch und damit zum Kernstück der Messe werden. Gleichzeitig wurde aber auch die Sinnlichkeit der Musik betont. In den weiteren Teilen der Messe, den dramatischeren wie auch im eher kontemplativen Sanctus, faszinierten die ‘BBC Singers’ mit einer ungewöhnlichen Transparenz und viel Vokalpower.
Apart und klanglich interessant ist Anders Hillborgs ‘Mouyayoum’ mit seinen wirklich erstaunlichen Klangformen, die manchmal direkt instrumental klingen und an Piccoloflöten, Maultrommeln und Streichinstrumente erinnern. Was die ‘BBC Singers’ in diesem himmlischen Chororchester leisteten, war absolut hinreißend.
In Michael Tippetts ‘Five Spirituals’ aus ‘A Child of our Time’ wurde der Chor diesen veredelten Spirituals absolut gerecht, und auch die Chorsolisten begeisterten mit lupenreinem Gesang.
Mit Bob Chilcotts warmherzigen Liedern ‘The Modern Man I Sing’ ging dieses unvergessliche Konzert zu Ende.
Für sein Konzert mit dem Norwegischen Kammerorchester und dem ungarischen ‘Purcell Choir’ im Nidarosdom hatte Masaaki Suzuki zwei Werke von Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach aufs Programm gesetzt.
Johann Sebastian Bachs Lutherische Messe g-Moll, BWV 235, ist eine ‘Missa Brevis’, die nur aus Kyrie, Gloria und Arien besteht. Für vierstimmigen Chor, drei Solisten und Orchester geschrieben, kam sie unter Suzuki in einer seltsam unausgefeilten Interpretation zur Aufführung. Die Messe war wohl in den Proben zu kurz gekommen, denn es kam keine Stimmung auf, dem Orchester wie auch dem Chor fehlte es an Ausdruckskraft. Vor allem aber ließ der schlecht ausbalancierte, undifferenzierend und unausgewogen singende Chor zu wünschen übrig. Nach zwei Konzerten mit den exzeptionellen BBC Singers war es schwierig an das Mittelmaß der Ungaren zu gewöhnen.
In Telemanns Oratorium ‘Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu’ änderte sich das Niveau glücklicherweise sehr. Diese Komposition entstand um 1760 und ist eines der letzten großen Vokalwerke Telemanns. Der Text von Karl Wilhelm Ramler schildert in sieben Abteilungen das biblische Geschehen von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt Jesu.
Im Wechsel von Rezitativen, Arien und Chören gelang Suzuki eine pulsierend-freudige, affektreiche Deutung dieser großartigen Komposition. Das Norwegische Barockorchester lief zu großer Form auf, der Chor blieb weiterhin monochrom und die Solisten waren durchwegs gut, wenn auch mit Unterschieden. Die beiden Herren, Tenor Andrew Staples (säuerlich) und der Bass Christian Immler (kernig-klar) fehlte es an Wärme, während neben der beachtlichen Marianne Beate Kielland, Mezzosopran, die Sopranistin Joanne Lunn durch hingebungsvollen und technisch exzellenten Gesang beeindruckte.
Die Musik wirkte aber insgesamt prächtig zusammen mit der Architektur des himmelwärts strebenden gotischen Nationalheiligtums. Der Nidarosdom ist die nördlichste mittelalterliche Kathedrale der Welt und die zweitgrößte in Skandinavien. Sie hat eine einmalige Anziehungskraft und bildet das geistige Zentrum der multikulturellen Pilgerfahrt, die das St. Olafs Festival eigentlich darstellt und einmalig macht.