Herausragende Konzerte mit Riccardo Chailly und Bernard Haitink sowie zwei Geniestreiche von Michel van der Aa hat Pizzicato-Mitarbeiter Alain Steffen beim ‘Lucerne Festival’ erlebt.
Wie in jedem Jahr war das Eröffnungskonzert des ‘Lucerne Festival’ dem hauseigenen Orchester vorbehalten. Nach dem Tode von Gründer und Chefdirigent Claudio Abbado leitet seit letztem Sommer Riccardo Chailly die Geschicke des ‘Lucerne Festival Orchestra’. Nach einem eher durchwachsenen Auftritt im Vorjahr mit Mahlers 8. Symphonie scheinen nun Musiker und Dirigent zusammengefunden zu haben.
Auf dem Programm des Eröffnungskonzertes vom 12. August standen in diesem Jahr ausschließlich Werke von Richard Strauss. Für Chailly, der nicht gerade als Strauss-Dirigent bekannt ist, war es eine Feuerprobe und für das Publikum eine äußerst spannende Begegnung zwischen dem deutschen Komponisten und dem italienischen Dirigenten. Chailly bezog dann auch noch keine richtige Position. Er ging weder den konsequenten Weg orchestraler Prachtentfaltung noch bekannte er sich zu einem eher analytischen Vorgehen. Und das störte uns ehrlich gesagt überhaupt nicht. Denn Chailly wählte einen Mittelweg, der somit eine virtuose Orchesterbehandlung neben ein sehr transparentes und eher schlankes Klangbild setzte. Somit kamen Freunde sinnlicher Orchesterfarben ebenso auf ihre Kosten wie die Liebhaber klarer Linien und einer eher objektiven Leseart. Zwar wollte sich die Magie des ‘Lucerne Festival Orchestra’ bei ‘Also sprach Zarathustra’ noch nicht so recht einstellen. Diese, seien wir ehrlich, eher heikle Tondichtung mit etlichen Längen versprühte noch nicht den Klangcharme, den man sich erhofft hatte.
In der zweiten Konzerthälfte aber erlebte das Publikum mit ‘Tod und Verklärung’ und ‘Till Eulenspiel’ sowie dem ‘Tanz der sieben Schleier’ aus der Oper ‘Salome’ großes Strauss-Kino. Das ‘Lucerne Festival Orchestra’ wurde seinem Ruf, eines der weltbesten Klangkörper zu sein, in jedem Moment gerecht. Vor allem muss man an diesem Abend alle solistischen Einlagen besonders hervorheben, die wohl von keinem anderen Orchester so gut gespielt werden können. Wenn auch der richtige Jubel des Publikums, den jedes Abbado-Konzert am Schluss immer ausgezeichnet hatte, ausblieb, so gab es doch viel freundlichen Applaus für Riccardo Chailly und das, sagen wir es noch einmal, atemberaubende Orchester.
Seit der Gründung im Jahre 2003 haben mehr als 1.000 Instrumentalisten, Dirigenten und Komponisten aus aller Welt an der ‘Lucerne Festival Academy’ teilgenommen. Als ‘Lucerne Festival Alumni’ kehren viele von ihnen regelmäßig für Konzerte nach Luzern zurück.
Unter der Leitung von Duncan Ward spielte das Ensemble der am 13. August um 11.00 Uhr Alumni Michel van der Aas ‘The Book of Disquiet’ (Das Buch der Unruhe) nach der Textsammlung von Fernando Pessoa. Van der Aas Musiktheater für Schauspieler, Ensemble und Film (2008) ist ein ganz großer Wurf, weil es der Komponist fertig bringt, Pessoas äußerst komplexes und schwieriges Buch in einer konsequenten Annäherung und klaren Regie auf die Bühne zu bringen.
Herausragend der Schweizer Theaterschauspieler Walter Sigi Arnold, der die Figur des Bernardo Soares bis in alle Winkel seiner sich auflösenden Persönlichkeit ausfüllte und durchlebte. Die Partitur von van der Aa, der in diesem Jahr Artist in residence’ beim ‘Lucerne Festival’ ist bei diesem Projekt zugleich als Komponist, Regisseur und Drehbuchautor agierte, wurde vom Ensemble der ‘Lucerne Festival Alumni’ sehr plastisch dargeboten. Ein absolutes Gesamtkunstwerk, genauso wie Michel van der Aas Kammeroper ‘Blank Out’ für Sopran und 3D-Film nach Texten von Ingrid Jonker, die ebenfalls auf dem Programm stand. Die einzige live auftretende Figur wurde von der schwedischen Sopranistin Miah Persson gesungen; Musik und Chor kommen vom Band und die andere Hauptperson, gesungenen von Roderick Williams wird per Video eingespielt. Regie führte auch hier der Komponist selbst. Auch diese Oper, die von verlorenen Identitäten, von Depersonalisation und Auflösung handelt, ist ein absoluter Geniestreich und dank der hervorragenden Performance von Miah Persson und Roderick Williams sowie einer überzeugenden dramaturgischen Umsetzung dieses Seelendramas ein enorm wichtiger Beitrag der Kunstgattung Musiktheater.
Am Abend folgte ein in allen Punkten wunderbares Konzert mit dem ‘Chamber Orchestra of Europe’ unter der Leitung von Bernard Haitink. In der ersten Konzerthälfte erlebte das Publikum eine relativ langsam und breit genommene Interpretation der Linzer-Symphonie von Wolfgang Amadeus Mozart, die mehr als einmal an den Spät-Stil eines Karl Böhm erinnerte. Unaufgeregtes Musizieren, großer Atem, sich langsam aber wunderschön entwickelnde Melodien standen in krassem Gegensatz zu den heute eher modern gewordenen historischen Interpretationen voller Drive, Kanten und Akzente. Mahlers Sammlung ‘Des Knaben Wunderhorn’ erlaubt den Interpreten eine relativ freie Zusammenstellung der Reihenfolge der Lieder. Bernard Haitink hat sich für eine konsequente Linie erschienen, bei der es anfangs noch relativ optimistisch und heiter zugeht während es zum Ende hin immer trauriger und düsterer wird.
Der Zyklus wurde in diesem Konzert mit dem ergreifenden Lied ‘Urlicht’ (aus der 2. Symphonie) beendet, wohl als Mahnung und Zeichen dafür gedacht, dass Krieg am Ende nur Leid, Trauer und Verlust hinterlässt. Die beiden exzellenten Interpreten waren die junge Sopranistin Anna Lucia Richter, die dabei ist, sich zu einer hervorragenden Liedsängerin zu entwickeln, und der Bariton Christian Gerhaher, einer der allerbesten Vertreter dieser Kunstgattung, die die Klassikszene momentan zu bieten hat. Ein Konzert, wie es besser, schöner und ergreifender nicht sein konnte.