Wiederholt haben wir hier schon auf das Schicksal der Ein-Werk-Komponisten hingewiesen. Denen kann Leonard Bernstein in gewisser Weise mit seiner ‘West-Side-Story’ hinzugerechnet werden, die seine übrigen Kompositionen in ihrer Bekanntheit deutlich in den Schatten stellt. Dank des Jubiläumsjahres zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein, genannt Lenny, werden in diesem Jahr auch die anderen Werke aufgeführt und eingespielt. Nach seinen eigenen Worten sollten alle seine Werke theatralische Musik sein und insofern besteht eine Brücke zwischen allen.
Seine drei Symphonien sind seine persönlichsten Werke, da sie die Krise, seine Suche nach und die Erkenntnis für den Glauben und damit verbunden das Leiden des Menschen in Töne fassen.
Die Erste Symphonie basiert auf wörtlichen oder intuitiv empfundenen hebräischen Motiven. Die zweite ist eine Auseinandersetzung mit dem Gedicht ‘Das Zeitalter der Angst’ von W. H. Auden und in die dritte fließt über die Widmung an den kurz vor Vollendung ermordeten John F. Kennedy ein Kommentar zum Zeitgeschehen ein.
Musikalisch wählt Bernstein besondere Darstellungsformen, um seine Gedanken zu verdeutlichen. In der Ersten Symphonie übernimmt ein Mezzosopran die Stimme des Jeremias, womit er die Tradition, dass nur Männer in der Synagoge sprechen dürfen, überwindet. In der Zweiten Symphonie übernimmt das Klavier sozusagen die Textrolle mit einem äußerst anspruchsvollen Part. Die dritte Symphonie, das Totengebet Kaddisch, das eigentlich Gottes Werk lobt, wiederum findet Frauen als Sprecherin und Sängerin, um die Nachdenklichkeit und das Menschliche darstellen zu können. Hatte Bernstein diese Besetzung anfangs festgelegt, um das Ewig-Weibliche herauszustellen, so hat er später die Rolle überarbeitet, um sie geschlechtsneutral zu halten. In diesem Werk wird das mit großem Schlagwerk besetzte symphonische Orchester zunächst mit Zwölftonmusik geführt, bevor es zum erlösenden Ende hin wieder tonale Sphären erreicht.
‘Prelude, Fugue and Riffs’ ist eine Hymne an den Jazz, in der Bernstein die wichtigen Stile vorstellt und trotz der ausgeschriebenen Noten, eigentlich ein Unding im Jazz, deren Charaktere wunderbar trifft.
Das ‘Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia’ ist sowohl Leonard Bernstein als auch Antonio Pappano eng verbunden. Bernstein wurde aufgrund seiner intensiven und künstlerisch wertvollen Zusammenarbeit mit dem Ensemble sogar Ehrendirigent dieses Orchesters, dem Pappano seit 2005 als Chef vorsteht. Doch auch die beiden Dirigenten verbindet eine enge Freundschaft, die den jungen Pappano mit dem ewig wissbegierigen, belesenen und energiegeladenen Bernstein zusammenführte und verband.
Insofern war es für Pappano und das Orchester ein Bedürfnis, diesen Werkzyklus zum Jubiläum aufgeführt und eingespielt zu haben. Dass sich hier Berufene zusammen gefunden haben, die sich nicht nur auf gemeinsame Erinnerungen stützen, steht außer Zweifel. Dirigent und Orchester haben sich in den letzten Jahren einen Spitzenplatz erspielt.
Diese Stellung können sie auch in dieser Aufnahme halten. Sowohl die gerade in diesen persönlichen Werken sehr leichten und kammermusikalisch besetzten Passagen als auch die kraftvollen großen Augenblicke werden jeweils atmosphärisch dicht angegangen. Die Aufnahmetechnik hat das Orchester gut durchhörbar eingefangen und trotzdem einen Gesamtklang bevorzugt, so dass das Gehörte nicht in Splitter zerbröselt.
Die Solistinnen tragen erheblich zum Gelingen bei. Marie-Nicole Lemieux gelingt es mit fokussierter, aber nicht auftrumpfender Verkörperung des Jeremias, dessen Appelle an das Volk glaubhaft darzulegen. Ihr Gesang ist klanglich ansprechend und textverständlich. Nadine Sierra als Sängerin und Josephine Barstow als Sprecherin verleihen zusammen mit den Chören, Erwachsenen- und Kinderchor der Accademia, dem Kaddish die nachdenkliche und zugleich auch voller Optimismus in die Zukunft blickende Farbe, die die Hoffnung trotz aller Krisen nicht erlöschen lässt. Josephine Barstow ist mitunter exaltiert, was dieser Rolle eigentlich nicht ganz zugrunde liegt, aber dieses beschränkt sich auf wenige Augenblicke.
Beatrice Rana am Piano, die schon mit Prokofiev überzeugt hatte, gestaltet auch hier den Klavierpart mit Virtuosität und Musikalität, ohne den Platz für Nuancen, blinkende Farben und dynamische Details außer Acht zu lassen.
Was die Interpretation von ‘Prelude, Fuge und Riffs’ angeht, so könnte man denken, dass die Italiener, denen viel Lebensgefühl nachgesagt wird, diesen Ton besonders gut treffen müssten, denn Leben steckt auch im Jazz. Allerdings ist das jazzige Amerika wild und unbändig und weniger ‘dolce far niente’, so dass diesem Werk etwas von der Spritzigkeit und auch Härte, die es ausmacht, abgeht. Alessandro Carbonare verleiht mit seiner Klarinette dem Werk ein solistisch prägendes Gesicht, das einem Spezialisten für diese Stilrichtung in nichts nachsteht.