Zu Lebzeiten durchaus anerkannt und vom Publikum geschätzt, verlor Erkki Melartin nach seinem Tod 1937 sehr schnell an Bekanntheit und geriet vollkommen in Vergessenheit. Auch wurde er ungerechtfertigterweise in eine Schublade gesteckt: Mehr als einmal konnte man lesen, wie er als Mahler-Epigone abgestempelt oder in den Schatten von Sibelius gestellt wurde (interessant, dass alle drei Komponisten – Melartin wie auch Mahler und Sibelius – Schüler von Robert Fuchs waren, der viele weitere namhaften Komponisten wie Schreker, Wolf, Zemlinsky, Richard Strauss oder Korngold unterrichtet hat). Diese Vorwürfe sind jedoch eine große illegitime Begrenzung angesichts seines Schaffens, denn Melartin war stets mit der neuesten Musik vertraut und lässt sich nicht als Epigone zweier Großmeister abstempeln. Gerade auch Debussy und die französischen Impressionisten schätzte er hoch und übernahm viel von der flexiblen Klangalchimie. Scriabin war für den späten Melartin von großer Bedeutung (man bedenke die unfassbare ‘Fantasia Apocalyptica’), der immer mehr die Grenzen der herkömmlichen Tonalität auslotete und mit freier Tonalität experimentierte. Auch Richard Strauss war ein Anhaltspunkt für Melartin. In der Musik aus dem Ballett ‘The Blue Pearl’ gibt es gar Anspielungen auf Stravinskys ‘Le Sacre du Printemps’, und sogar Johann Strauß freut sich über einen – wenn auch nur Sekunden andauernden – Gastauftritt.
Hannu Lintu gilt gewissermaßen als der Wiederentdecker Melartins im 21. Jahrhundert. 2013 brachte er das ‘Traumgesicht’ erstmals nach 81 Jahren wieder auf die Bühne. In seiner zwei Jahre später entstandenen, hier vorliegenden CD-Einspielung setzt er bei diesem Werk ebenso wie bei der Legende ‘Marjatta’ und der Musik aus ‘Sininen Helmi’ (Die Schwarze Perle), auf einheitlichen Schönklang der Melodie und einen kontinuierlichen Fluss. Doch über weite Strecken will dies einfach nicht funktionieren, die Musik klingt uninspiriert, routiniert, ohne wirkliche geistige Präsenz. Die so zentralen Kontraste gehen in Gleichförmigkeit verloren, und alles wirkt lediglich korrekt buchstabiert.
Melartin nannte sein ‘Traumgesicht’ selbst ein Stück von unglaublicher, beinahe beängstigender Schwierigkeit – und damit meinte er sicherlich nicht alleine die fingertechnischen Anforderungen, mit denen die hochrangigen Musiker des Finnischen Radio-Symphonieorchesters heute natürlich kein hörbares Problem mehr haben, sondern die komplexe Struktur und die polyphonen Anforderungen, welche der Dirigent auszuarbeiten hat. Doch dies ist zu wenig hörbar, weil in den dichten Passagen ein Klanggewirr entsteht, das es dem Ohr nicht erlaubt, die einzelnen Stimmen herauszuhören.
Insgesamt deutlicher kommt immerhin die Musik aus ‘The Blue Pearl’ daher, in welcher die musikalischen Aussagen leichter zum Tragen kommen. Eine pittoreske Gegenständlichkeit steckt in den Vertonungen dieser kurzen Szenen, sei es das Tropfen von Wasser oder aufkommender Sturm, das programmatisch Erfahrbare wird einen unweigerlich mitreißen.
Soile Isokoski ist die Solistin in ‘Marjatta’, einer Legende aus der ‘Kalevala’, der Inspirationsquelle beinahe jedes finnischen Komponisten. Der Solopart ist an sich gesprochene Sprache in narrativer Darstellung (in Finnland ein gerne verwendetes Mittel, um den bedeutungsvollen Text auch tatsächlich verständlich zu machen und ihm unstrittigen Vorrang einzuräumen). Isokoski singt mit markantem Timbre, einfühlsamem Gestus und nuancierter Vielseitigkeit. Lediglich das mechanische Vibrato stört etwas den Eindruck.
Wie schade, dass Hannu Lintu insgesamt nicht tiefer in diese Musik eingedrungen ist, die er doch selbst neu entdeckt hat. Vermutlich war es hier wie so oft, dass einfach die Probenzeit nicht wirklich ausgereicht hat, um grundlegend musikalisch zu arbeiten. So geht doch Quantität über Qualität. Trotz allem, alleine die vergessenen Werke sind quasi ein Muss für alle Freunde nordischer, bzw. finnischer Musik, Ondine versorgt uns einmal mehr mit großartigen Raritäten aus der finnischen Heimat, die ich ungerne missen möchte.
Hannu Lintu rediscovers orchestral music by his Finnish compatriot Erkki Melartin who really was up to date with contemporary style-pluralism. Alas, the performances often sound monochrome and uninspired, with a lack of transparency. With her unique timbre Soile Isokoski sings in a truly sensitive way, but with an irritating mechanical vibrato.