Da schaut man erst mal ungläubig auf die Spielzeiten: 14’17 » steht da für den ersten Satz, das Adagio aus Haydns 49. Symphonie. Das ist doppelt so viel als in den meisten Interpretationen. Und wenn die Musik dann beginnt, schafft Barbara Hannigan ab den ersten Takten eine Situation von Trauer, Hoffnungslosigkeit und Verlust, wie ich sie noch nie in dem Stück erlebt habe. Die gedehnten Tempi, die bedeutungsvollen Pausen, sie geben dem Adagio eine nie gehörte Tiefe und Aussagekraft. Das Allegro di molto bleibt auch im Tempo noch hinter vielen anderen zurück, ist aber dennoch energetischer als alle anderen Aufnahmen, die ich zum Vergleich herangezogen habe (Hogwood, Barenboim, Tognetti), vor allem dynamisch variabler und daher insgesamt kontrastreicher und rhetorischer. Erst in den beiden letzten Sätzen pendelt sich Hannigan auf die üblichen Tempi ein, aber auch damit bleibt sie durch Neuordnungen in der Artikulierung und der Dynamik aussagekräftiger als andere Dirigenten. Nichtdestotrotz bin ich mir sicher, dass Hannigans gewagte Interpretation auch auf Ablehnung stoßen wird, vor allem bei Leuten, die sich gegen Gefühle in der Musik wehren.
Haydns Symphonie wird von zwei zeitgenössischen Werken umrahmt. Das Programm beginnt sehr eindringlich mit dem Sopran-Solostück Djamila Boupacha, einem musikalischen Manifest von Luigi Nono. Djamila Boupacha war eine algerische Kämpferin, die im Algerienkrieg von französischen Soldaten gefoltert wurde, und im Prozess aussagte, ihr Geständnis sei u.a. mit sexueller Gewalt erzwungen worden. Boupacha kam mit Ende des Algerienkriegs frei. Ihr Fall inspirierte Picasso zu einem Bild, Simone de Beauvoir zu einem Buch und Jesus Lopez Pacheco zu dem an sich hoffnungsvollen Gedicht, das Nono vertonte. Barbara Hannigan singt die Monodie absolut packend.
Die Quatre Chants pour franchir le seuil sind Gérard Griseys letztes Werk, eine 40 Minuten lange Meditation über das Sterben mit den vier Liedern La mort de l’ange, La mort de la civilisation, La mort de la voix, La mort de l’humanité und der anschließenden Berceuse. Entstanden ist es kurz vor Griseys Tod im Jahre 1998. Barbara Hannigans Aufnahme ist erst die zweite von diesem Werk, aber es ist nach jener von Catherine Dubosc bei Kairos auch die beste der zwei, denn Hannigan gelingt es, die Texte ungemein ausdrucksvoll werden zu lassen und als Dirigentin und Solistin das Instrumentalensemble in ihren Bann zu ziehen, um zusammen mit ihm ein packend mysteriöses Ganzes zu schaffen.
Grisey hat die abschließende Berceuse als etwas Überirdisches angesehen, ein Wiegenlied, das « nicht zum Einschlafen, sondern zum Erwachen dienen soll ». Und so endet diese CD dann nach allem Schmerz, allem Kummer und aller Trauer sehr versöhnlich.