Herr Blomstedt, was ist eigentlich das Entscheidende, das einen großen Interpreten oder Musiker ausmacht?
Eigentlich ist es relativ einfach. Man muss einerseits ein solides musikalisches Fundament haben und eine genaue Kenntnis des Werkes besitzen, andererseits gehören Stiltreue, aber auch Phantasie zum Werkzeug des Interpreten. Es kommt natürlich dann noch auf die richtige Mischung an. Zugleich den Willen des Komponisten respektieren, den Stil des Werkes begreifen und noch die ganz eigene Individualität mit ins Spiel bringen, das ist nicht immer ganz leicht.
Wenn man ältere Dirigenten, aber auch Solisten, im Konzertsaal erlebt, so schwingt in ihren Interpretationen oft eine gewisse Gelassenheit und Natürlichkeit mit. Effekte werden gar nicht mehr erst aufgesucht, die Musik scheint sich wie selbstverständlich zu entwickeln.
Also die Gelassenheit ist nur scheinbar. Dirigieren ist immer gekoppelt mit Spannung. Nur Gelassenheit ist Schlamperei. Ich glaube, es hat sicherlich mit einer gewissen Reife zu tun. Man kennt das Werk oder zumindest die Noten. Zu wissen, dass man eine Komposition schon oft aufgeführt hat, gibt einem eine Sicherheit. Aber ausgelernt hat man nie. Selbst in meinem Alter lerne ich mit jeder Aufführung dazu. Und nur diese Offenheit, die Bereitschaft zu lernen, vermag es, diesen Spannungsprozess zum Leben zu erwecken.
Wie gehen Sie an ein Werk heran, das Sie schon jahrzehntelang kennen und immer wieder aufgeführt haben?
Ganz einfach, ich gehe an das Werk so heran, als würde ich es überhaupt nicht kennen und mich zum allerersten Mal damit beschäftigen. Das hat natürlich sehr viel mit Selbstdisziplin und Selbstkritik zu tun. Ich weiß oder besser ich ahne, was ich noch in diesem Werk entdecken kann, dass ein Werk auch nach Jahrzehnten zu mir spricht, mit neue Wege zeigt. Und das erfüllt mich mit Ehrfurcht. Es gibt mit immer wieder neuen Ansporn und weckt Neugierde. Ein Werk hört nach dem Konzert auf, sicher, das bedeutet aber nicht dass es abgeschlossen ist. In der Musik ist alles nur vorläufig. Musik ist ein Prozess, der nie einen wirklichen Abschluss findet. Und das ist ja das Einmalige am Musikmachen. Ein Buch wird geschrieben, die Geschichte ist abgeschlossen, ein Ölgemälde wird auch irgendwann fertig sein, sogar eine Komposition wird zu einem bestimmten Zeitpunkt beendet sein, die Interpretation dieses Werkes allerdings nie.
Nehmen wir als Beispiel einmal die Musik Anton Bruckners. Wie hat sich Ihre eigene Entwicklung im Hinblick auf seine Musik verändert? Was ist für Sie heute anders als früher?
Meinen ersten Bruckner hörte ich mit dreizehn. Ich war also noch ein Kind. Was mich damals faszinierte, war der Klang. Dieser Klang hat mich in einen wahren Rausch versetzt. Bruckners Musik hatte mich so fasziniert, dass ich auf dem Nachhauseweg immer wieder die Hauptmelodie sang, um sie ja nicht zu vergessen. Zu Hause versuchte ich dann, sie mit meinen damals bescheidenen musikalischen Kenntnissen zu notieren. Ich durfte diese Musik auf keinen Fall vergessen. Später, als junger Dirigent, habe ich mich dann sehr an Vorbildern orientiert. Damals war ich von den Interpretationen Eugen Jochums außerordentlich fasziniert. Je älter und sicherer man wird, desto weiter entfernt man sich von den Vorbildern. Man entdeckt seine eigenen Wege, dies aber ganz oft, indem man versucht, seinen Vorbildern nachzueifern. Zuerst imitiert man, dann löst man sich nach und nach davon. Heute glaube ich sagen zu können, dass ich meinen eigenen Bruckner dirigiere, der nicht mehr auf ehemalige Vorbilder zurückzuführen ist. Ich habe im Laufe der Jahre auch gemerkt, dass viele Interpreten gar nicht das machen, was in der Partitur steht. Das hat sicher mit der historischen Brucknerinterpretation zu tun, die ganz früher eher romantisch angelegt war und zu breiten, suchenden Tempi tendierte. Besonders der Anfang einer Bruckner-Symphonie wurde meistens sehr langsam genommen. Dann musste sich allerdings die ganze Entwicklung der Interpretation darauf aufbauen, ansonsten wäre die Musik aus der Balance gekippt. Dieser Hang zur Langsamkeit kommt sicher aus dem 19. Jahrhundert, genauer, aus der Zeit Wagners, der gesagt hat, ein Adagio Beethovens könne nicht langsam genug sein. Das hat man dann auf die Musik Bruckners übertragen, vielleicht gerade, weil seine Musik neben romantischen Charakterzügen auch klassische Elemente besaß. Als Interpret muss man zu jeder Zeit bereit sein, vorgegebene Richtungen zu hinterfragen und sie gegebenenfalls korrigieren.
Solche Entdeckungen habe ich immer wieder gemacht. Viele von Bruckners Symphonien wurden ja immer wieder revidiert und dem Zeitgeschmack angepasst. Bei der Uraufführung der Fünften hat Franz Schalk elf Blechbläser im Choral des Finales hinzugenommen, weil das einen besseren, strahlenderen Effekt gibt und diesen Choral als krönenden Abschluss doppelt und dreifach betont.
Und warum gerade elf?
…(lacht) Weil es zwölf Apostel gab, einer davon aber war Judas, blieben also noch elf. Das ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die Religiosität Bruckners quasi zu einem Zwangsgedanken für die Interpreten wurde. Das war aber pure Phantasie. Ich habe im Prinzip nichts dagegen, wenn man die Religiosität Bruckners in seinen Werken aufdeckt, aber es muss fundiert sein und nicht aus einer persönlichen Idee heraus gemacht werden.
Ein anderes Beispiel: Im Prinzip gibt es ja zwei große Gesamtausgaben der Bruckner-Symphonien, eine hat Robert Haas in den Dreißigerjahren während der Nazizeit begonnen, die andere stammt von Leopold Novak. Beide unterscheiden sich aber zum Teil sehr voneinander. Nicht immer durch die Noten, sondern, wie in der Siebten, durch die Tempobezeichnungen. Die Haas-Versionen waren sehr von der Bruckner-Auffassung der Nazis geprägt. Für Hitler war Bruckner der symphonische Schwager Richard Wagners. Also war Bruckner auch für Hitler quasi ein Heiliger. Somit stand schnell fest, in welche Richtung sich Bruckners Musik damals zu entwickeln hatte. Novak hat dann Haas auch öffentlich beschuldigt, zu braun zu sein und die Musik Bruckners missbraucht zu haben. Was Haas wirklich machte, war eine Revidierung der Korrekturen von Schalk und Loewe, die ihre eigenen Metronomangaben mit der Absegnung Bruckners gedruckt haben, dem Komponisten aber oft ihren Willen aufgezwungen haben. Haas wollte wieder den ursprünglichen Bruckner herstellen, da ihm die Schalk- und Loewe-Korrekturen zu suspekt waren. Novak hat das dann zwanzig, dreißig Jahre später wieder eingeführt, weil er sich auf das Einverständnis Bruckners zu diesen Abänderungen berief. Wohlgemerkt, das alles bezieht sich ausschließlich auf die Tempomodifikationen, nicht aber auf die Noten oder auf die Instrumentierung. Erst kürzlich hat man Briefe von Bruckner selbst wieder entdeckt, wo er sagt: « Es steht nicht alles in der Partitur, es gibt sehr viele Tempomodifikationen, die man machen muss und die nicht da stehen. » Damit beruft er sich auf das Gefühl des Interpreten für die Musik und ist überzeugt, dass der Dirigent von selbst, also ganz natürlich, das richtige Tempo wählt.
Für mich haben sowohl Haas- wie auch Novak-Ausgaben ihre Berechtigung. Bei der siebten Symphonie aber spiele ich entschieden Novak. Sie sehen, um Bruckner zu spielen, muss man sich sein eigenes Bild formen. Mann muss das Original kennen, man muss wissen, was Schalk und Loewe gemacht haben und worin sich Haas und Novak unterscheiden und welchen Impakt all dies auf die Musik Bruckners hat.
Sie stammen aus einem religiösen Elternhaus, Ihr Vater war Theologe. Sie selbst sind ein religiöser Mensch. Hat die Religion einen Einfluss auf Ihr künstlerisches Tun?
Unbedingt! Dieses Religiöse macht sich aber nicht nur an meinem Bruckner-Verständnis fest, sondern beeinflusst mein ganzes musikalisches Handeln. Es ist eine besondere Haltung der Schöpfung gegenüber. Und auch der Natur, dem Menschen und der Musik gegenüber. Wenn wir uns alle als ein Teil ein und derselben Schöpfung sehen, dann sieht man die Verhältnisse auf einmal ganz anders. Das hat viel mit Respekt zu tun, aber auch mit dem Geheimnis, was die Schöpfung umgibt. Jedes Werk ist eine Schöpfung und trägt dieses Geheimnis der Entstehung in sich. Und jedes Mal, wenn wir ein Werk spielen, lassen wir es neu entstehen und kommen der Schöpfung als metaphysischem Gedanken sehr nahe.
Was ist Werktreue?
Die Bezeichnung ‘im Dienste des Werkes stehen’ war seit jeher von den momentanen Moden abhängig. Was man heute als Werktreue bezeichnet, das war zur Zeit Gustav Mahlers etwas ganz anderes. Mahler selbst hat von den Dirigenten gefordert: « Wenn in meiner Musik etwas nicht stimmt, dann bitte ändern Sie es, nein, ich verlange von Ihnen, dass Sie es ändern! Es ist Ihre Pflicht! » Damals waren die Dirigenten quasi Halbgötter; so eine Haltung ist heute kaum denkbar. Aber Sie sehen, Werktreue ist nicht gleich Werktreue. Sie hat sehr viel mit der Zeit zu tun, in der man lebt. Aber egal welche Haltung man annimmt, sie kann ganz leicht ausufern, und plötzlich weiß man überhaupt nicht mehr, was der Komponist eigentlich wollte. Ich glaube, diese Gefahr des Missbrauchs ist bei religiösen Menschen weniger groß. Bei mir überwiegt jedenfalls die Ehrfurcht vor dem Werk und der Tradition. Religion ist übrigens ein sehr gutes Mittel gegen übertriebene Eitelkeit, gegen die der Künstler nicht gefeit ist… (lacht).
Fördert das Publikum nicht auch diese Eitelkeiten, indem es die Stars einfach braucht und mit aufbaut?
Sicher auch, aber Konzerte haben nun mal etwas mit Show und Posen zu tun. Das ist einfach so, es ist ein Wechselspiel zwischen Publikum und Ausführenden, sicher aber auch ein Vehikel, um die Musik von dem Einem zu dem Anderen zu transportieren. Nur muss sich alles in Grenzen halten. Es gibt eine Geschichte von einer Dame, die in ein Nikisch-Konzert gehen wollte. Sie hatte von der Faszination gehört, die dieser Dirigent auslöste. Sie ging dann mit einer Bekannten ins Konzert und war ziemlich gelangweilt. Das war nicht nach ihren Erwartungen und so sagte sie zu ihrer Freundin: „Bitte wecke mich, wenn er anfängt zu faszinieren“.(lacht)
Glauben Sie an die universelle Sprache der Musik?
Auf jeden Fall! Aber nicht alle Werke haben diese universelle Kraft, Menschen zu einem kollektiven Erlebnis zusammen zu schweißen. Es sind vor allem die Werke, die man unter der Bezeichnung ‘vom Dunkel zum Licht’ zusammenfassen könnte, die also einen triumphalen Schluss haben und das Publikum immer zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Dies aber in allen Varianten! Eine Beethoven- oder Brahmssymphonie besitzt eine unheimlich starke universelle Kraft, weil sie die Richtung vorgibt und weil man weiß, dass der Komponist auf einen absoluten Höhepunkt zusteuert. Dabei ist es dann unmöglich, sich der Faszination dieses Nach-vorne-Eilens zu entziehen. Man wird geführt und das ist sehr befreiend und ebenfalls verbindend. Jeder erlebt es anders, hat seine eigene Variante des Empfindens und doch ist dieses kollektive Gefühl einfach da, die Freude am Teilen! Schauen Sie, nachdem meine Frau verstorben war, war das was ich am meisten vermisste, die Freude des Teilens. Ob es sich nun um ein Geschenk oder ein Ereignis handelte, ich konnte plötzlich meine Freude nicht mehr mit meiner Frau teilen. Ich glaube, erst da ist mir die Wichtigkeit dieses Gefühls bewusst geworden. Musik vergrößert dieses Gefühl des Teilens auf Hunderte oder Tausende von Menschen. Es gibt nicht viele Veranstaltungen oder Ereignisse, die dies bewirken können. Eigentlich kenne ich nur zwei. Musik und Fußball (lacht).
Das Interview wurde 2008 gemacht und in der Druckausgabe von Pizzicato erstveröffentlicht