Simon Rattle - The Berlin Years; Franz Liszt, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Ludwig van Beethoven, Olivier Messiaen, Carl Orff, Antonin Dvorak, Claude Debussy, Benjamin Britten, Richard Strauss, Franz Schubert, Dmitri Shostakovich u.a.; Peter Seiffert, Karita Mattila, Anne Sofie von Otter, Thomas Moser, Philip Langridge, Thomas Quasthoff, Angela Denoke, Jon Villars, Laszlo Polgar, Juliane Banse, Rainer Trost, Sally Matthews, Lawrence Brownlee, Christian Gerhaher, Emmanuel Pahud, Majella Stockhausen, Ian Bostridge, Radek Baborak, Sarah Chang, Dorothea Röschmann, Sabine Meyer, Susan Graham, Magdalena Kozena, Nathalie Stutzmann, Sophie Koch, Jose van Dam, Mojca Erdmann, Kate Royal, Jonas Kaufmann, Genia Kühmeier, Christina Landshamer, Andre Schuen, Luba Orgonasova, Dmytro Popov, Mikhail Petrenko, Ernst Senff Chor Berlin, MDR Rundfunkchor Leipzig, Arnold Schoenberg Chor, Rundfunkchor Berlin, State Choir Latvia, Libera, Chor der Deutschen Staatsoper Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; # Warner 5419768589, Aufnahmen 1994-2012, Veröffentlichung 05.-12.4.2024; Rezensionen von Remy Franck, Alain Steffen, Guy Wagner & Pierre-Jean Tribot

Warner veröffentlicht eine Box mit 45 CDs, die Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern für EMI aufgenommen hat. Von den meisten dieser Interpretationen hat Pizzicato im Laufe der Zeit Rezensionen veröffentlicht. Hier sind sie, gebündelt in einem Beitrag.

Spitzenversion der Faust-Symphonie
Supersonic – Franz Liszt: Eine Faust-Symphonie; Peter Seiffert, Peter-Senff-Chor, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Liveaufnahme 04.1994 (68’49’)
(Remy Franck) – Im April 1994 weilte Simon Rattle für mehrere Aufführungen der Lisztschen Faust-Symphonie in Berlin: es war seine erste Begegnung mit dem Berliner Philharmonischen Orchester. EMI Classics hat die Konzerte mitgeschnitten und daraus eine CD gemacht. Und es gibt keinen Zweifel: Rattle setzt sich mit dieser Einspielung gleich ins Spitzenfeld der ganz gewiss nicht einfach zu dirigierenden Symphonie, die einen programmatischen Hintergrund hat und mit einer Leitmotivtechnik drei Figuren des Dramas charakterisiert, zuerst Faust, dann Gretchen und schließlich Mephisto, der sich (musikalisch) aus abgewandeltem Faust-Material zusammensetzt.
Rattle benutzt die Partitur nicht, um aus ihr ein virtuoses Konzertstück zu machen. Orchestrale Virtuosität ist zwar reichlich vorhanden und auch bewundernswert, aber sie wird nie zum Selbstzweck. Rattle begnügt sich nicht mit brillantem Musizieren, sondern dringt tiefer ins Werk hinein als viele seiner Kollegen. Seine Tempi sind akkurat, die Dynamik-Bandbreite außergewöhnlich und die Rhythmik regelrecht faszinierend. Sie ist die Grundlage auf welcher der Dirigent seine Interpretation aufbaut, die ihm hilft, dämonische Kräfte zu entfesseln, den Geist, der stets verneint, hörbar werden zu lassen. Sehr tief empfunden ist auch der Gretchen-Satz, dessen komplexe Struktur Rattle aufregend deutlich werden lässt. Die Berliner Philharmoniker, der Tenor Peter Seiffert und die Herren des Senff-Chors leisten eine denkbar gute Arbeit.

Packende Gurrelieder
Supersonic – Arnold Schönberg: Gurrelieder; Karita Mattila, Anne Sofie von Otter, Thomas Moser, Philip Langridge, Thomas Quasthoff, Rundfunkchor Berlin, MDR Rundfunkchor Leipzig, Ernst Senff Chor, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 09.2001 (110’13)
(Remy Franck) Schönbergs spätromantische Gurrelieder auf einen Text des Dänen Jens Peter Jacobsen werden von EMI in einer Spitzeneinspielung auf den Markt gebracht.
Karita Mattila (Tove) singt mit viel Wärme und einer ausgezeichneten Technik, und Thomas Moser (Waldemar) ist genau wie Anne Sofie von Otter, Philip Langridge und Thomas Quasthoff von bestechender Expressivität.  Dabei werden alle Charaktere bestens herausgearbeitet.  Chöre und Orchester klingen herausragend gut und wurden auch klanglich gut eingefangen.
Das größte Verdienst an diesem Erfolg aber hat wohl Simon Rattle, der Schönbergs leidenschaftliche und durchaus sensuelle Musik genauso spannend wie gefühlvoll aufblühen lässt.

Florestan gerettet, ‘Fidelio’ tot
♪♪- Ludwig van Beethoven: Fidelio; Angela Danoke (Leonore), Jon Villars (Florestan), Alan Held (Pizzarro), Laszlo Polgar (Rocco), Juliane Basne (Marzelline ), Rainer Trost (Jacquino), Arnold Schönberg Chor, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 04.2003 (111’15)
(Remy Franck) Ich lege die erste CD ein und warte darauf, gepackt zu werden. Doch bei allem transparentem Orchesterklang, bei aller Leichtigkeit, mit der Simon Rattle Beethovens einzige und schwer erarbeitete Oper angeht, es passiert an Dramatik wenig, das mich mitreißen würde. Die Musik plätschert dahin, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Auch der zweite Aufzug ändert da nichts, und am Ende frage ich mich, wo denn die humanistische Dimension des Dramas geblieben ist. Mit seinen flüchtigen Tempi und seiner oberflächlichen Sentimentalität hat Rattle weder die innere Kraft für die jähen dramatischen Steigerungen und Ausbrüche, noch gelingt ihm der lyrische Überschwang. Er hat, wie schon die Symphonien, auch diesen ‘Fidelio’ banalisiert, Beethovens Expressionismus jeder Ausdrucksgewalt beraubt. Die dramatischen Höhepunkte werden flach, das was hinter der Musik steht, das Freiheitsideal, der Sinn für Gerechtigkeit, das Anprangern brutaler Diktatur, alles wird bei Rattle weggekehrt. Er spult das Drama mit bemerkenswerter Routine und Gleichmäßigkeit und ohne jeden Spannungsverlauf ab, nach dem Motto: Operation gelungen, Patient tot.
Angela Denoke kämpft mehr mit dem Notenmaterial, als dass sie sich souverän um die glühende Innerlichkeit des Vortrags kümmern könnte. Jon Villars Florestan hat obwohl auch er mitunter sehr angestrengt klingt, schon eher auch das, was der Interpretation Größe gibt. Die anderen Rollen sind zufriedenstellend besetzt, wobei Juliane Banse für ihren schönen, warmen Gesang als Marzelline ohne jede Soubrettenhaftigkeit eine besondere Erwähnung verdient. Aber ihretwegen allein kann man für diesen Fidelio kaum eine Empfehlung aussprechen.
Nach den Gesamtaufnahme der Symphonien und diesem ‘Fidelio’ steht nunmehr fest: Rattle ist ein völlig nichtssagender Beethoven-Interpret und offenbar nur in einem gewissen Repertoire wirklich gut.

Lichte Höhen
Supersonic – Olivier Messiaen: Eclairs sur l’au-delà; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2004 (60’24)
(Guy Wagner) – Nicht in all seine Konzerten und Schallplatteneinspielungen konnte der neue Chef der Berliner Philharmoniker in letzter Zeit überzeugen, aber als Anwalt von Olivier Messiaen, dem er mit ebenso viel Bewunderung wie Engagement für seine Musik begegnet, ist er mehr als beeindruckend.
Rechtzeitig zur Sommertournee der ‘Berliner’, mit u.a. Luzern und ‘Proms’, wo ich das Werk live hören konnte, erschien ihre Aufnahme von ‘Eclairs sur l’au-delà’ und wird für mich zum Nachhall eines starken Konzerterlebnisses.
Allerdings muss ich gestehen, dass ‘Orion’ von Kaija Saariaho, das eine ähnliche Thematik vorstellt, zumindest teilweise, mir anderntags unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste, – welch ein Präzisionsfanatiker! – noch stärker imponiert hat, da das Werk konzentrierter und kohärenter wirkt. Bei Messiaen hat man zeitweise den Eindruck von Geschwätzigkeit.
Nun aber zur EMI-Einspielung von ‘Eclairs sur l’au-delà’ mit ihrem wunderbar transparenten Klangbild! Beeindruckend ist zuerst das Orchester der Berliner Philharmoniker, das man in der Ära von Karajan, aber auch noch von Abbado, eher als Sachverwalter großer Traditionen denn als Pioniere der Musik von heute erlebt hat. Die Musiker verstehen es meisterlich, Messiaen Klangsinn und Geisteswelt wiederzugeben, und sie tun dies mit einem Selbstverständnis und einer Selbstverständlichkeit, die überzeugen. Vor allem gelingt es ihnen, ganz natürlich und ganz einleuchtend die verschiedenen Schichten seines Universums bloßzulegen: Vögel, Sterne, unerschütterlicher Glaube.
Der Bläserklang der einleitenden ‘Apparition du Christ glorieux’ mit großartigen, gewaltigen Harmonien, fesselt sofort, und gespannt folgt man der vielschichtigen Entwicklung des Werkes. So in den Gesängen der Vögel mit ihrer unglaublichen rhythmischen Komplexität, in den Klangeffekten, wenn es um Sternen und Sternbilder geht, im rasenden Schlagzeug, wenn die Apokalypse heraufbeschworen wird, vor allem aber im zentralen der insgesamt elf Teile, dem fünften: ‘Demeurer dans l’Amour’, mit seinen unglaublich warmen Streicherklängen, und im abschließenden Verklingen von ‘Le Christ, lumière du Paradis’. Nur Stille kann danach noch folgen.
Rattle gelingt es mit seinen tadellosen Musikern, die Komplexität dieser Riesenpartitur für Riesenorchester (bis zu 128 Musiker!) aufzuschlüsseln und transparent zu machen. Dabei schafft er eine Expressivität, die Messiaen wohl bekommt, da sie klarmacht, dass er versucht hat, einen ganzen Kosmos mit musikalischen Mitteln zu gestalten.
So wird diese Summe seiner Überlegungen und seiner Erkenntnisse zu einem schon fast selbstverständlichen in sich ruhenden, abschließenden Musikwerk: schließlich ist ‘Eclairs sur l’au-delà’ (1987-1989) Messiaens letzte große symphonische Komposition.
So voller Präzision, Klarheit, scharfer Nuancen und rhythmischer Prägnanz, so magistral wie Rattle und die Berliner Philharmoniker das Stück deuten, gewinnt es eine schon fast wieder klassische Dimension. Ihre Einspielung setzt Maßstäbe, die wohl so bald nicht mehr übertroffen werden.

Simon Rattle: Sinkender Stern
♪ – Carl Orff: Carmina Burana; Sally Matthews, Lawrence Brownlee, Christian Gerhaher, Berliner Rundfunkchor, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 12.2004 (59’14)
(Remy Franck) – Ich habe es bereits gesagt: Simon Rattles Glanzzeit ist vorüber, sein Stern im Sinken! Die narzisstische Fassung der ‘Carmina Burana’, die er bei EMI vorlegt, ist dafür ein weiterer Beweis.
Das Rezept, mit dem Rattle an Carl Orffs Meisterwerk herangeht ist denkbar einfach, um nicht zu sagen einfältig: Schnelles schneller, Langsames langsamer, Lautes lauter, Leises leiser. Die völlig unsinnige Tempobeschleunigung in der Coda von ‘O Fortuna’ ist das erste Element, aber nicht das letzte, das mit in dieser Interpretation missfällt. In einigen Tänzen der Sektion ‘Uf dem Anger’ wird so leise musiziert, dass kein Tänzer auf diese Tanzmusik hätte tanzen können.
Hier wie an anderen Stellen wird die Musik in einer abstrusen Art und Weise romantisiert, ohne dass sie aber den Sensualismus und die Vitalität bekäme, den sie braucht, um zu wirken. In schnelleren Teilen ist vieles schlicht und einfach verhetzt und flitzt kraft- und saftlos an uns vorbei. Einige wenige gelungene Passagen sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
Das ‘Estuans Interius’ verkommt zu einem banalen Ritt durch die Partitur, und die Urgewalt der Lust wird so unlustig gezeigt, dass einem die Lust daran vergeht, nicht zuletzt, weil der insgesamt schwache Christian Gerhaher auch noch Heiserkeitsanfälle hat, die erheblich stören. Derselbe Sänger versucht das ‘Ego sum abbas’ besonders witzig zu gestalten und vollbringt aber nur eine schauderhafte und anwidernde Parodie – sie ist in einem solchen Maß widerlich, dass ich das Stück beim zweiten Anhören der CD übersprungen habe. Das vom Tenor todernsthaft gesungene ‘Olim lacus colueram’ zeigt, wie wenig Rattle von Orffs Musik verstanden hat. Ab da und bis zum Schluss wird die Musik in gepflegter Langeweile dargeboten. An diesem Tatbestand ändert auch die zauberhafte Sally Matthews nichts…

Rattles hochauflösender Debussy
Supersonic – Claude Debussy: Prélude à l’après-midi d’un faune + La boîte à joujoux + La Mer + 3 Préludes; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle;  Aufnahme 09.2004 (78’46)
(Remy Franck) – Diese Aufnahmen gehen in den Bauch. Das zarte Wogen der Musik im extrem langsam und sensuell gespielten, wundervoll detailreich geformten Prélude à l’après-midi d’un faune ist phänomenal in seiner Wirkung: Ätherische Musik, die den Geist weit weg entführt in geheimnisvolle Welten, mit Pianissimo-Klängen, die aus dem All kommen und ins All entschweben. Genau von dort kommt uns La Mer entgegen, hundertprozentig im Sinne des Komponisten, mehr Ausdruck von Empfindung als Klangmalerei. Was die Berliner im ersten Satz an daunenzarten Klängen aushauchen, macht ihnen keine andere Frau Holle so leicht nach. Rattle geht auch in diesem Werk mit einem unnachahmlichen Sinn für Formen, für Transparenz und Konturen vor, ohne dabei gleich die Dynamik in die Höhe zu reißen. So hochauflösend hat man Debussy wohl selten gehört.
Mit ungemein viel Spielfreude und atmosphärischer Dichte erklingt die Boite à joujoux, während drei Klavier-Préludes in einer tief empfundenen Orchestrierung von Colin Matthews das Programm melodiös-lyrisch beschließen, luftig und farbenreich, vom Orchester bis ins feinste Detail ausgelotet.

Stilvoller Britten
Supersonic – Benjamin Britten: Serenade for Horn and Strings + Les Illuminations + Nocturne; Ian Bostridge, Tenor, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 04.2005 (74’55)
(Alain Steffen) Seit seinem Wechsel von Birmingham nach Berlin hat das ‘Wunder Rattle’ etliches an Attraktivität eingebüßt. Statt spannender Aufnahmen, wie sie am Kopf des City of Birmingham Symphony Orchestra gang und gebe waren, hat Simon in Berlin eher mit Routine und Langeweile geglänzt. Nur vereinzelt gibt es da Aufnahmen, die noch würdig sind, überhaupt erwähnt zu werden, selbst die Mahler-Reprisen mit den technisch besseren Berliner Philharmonikern konnten nie so recht begeistern und selbst die von mir besprochenen ‘einfachen’ Tondichtungen von Antonin Dvorak glänzten durch nichtssagende Routine. Umso erfreuter sind wir, endlich wieder eine hochkarätige Aufnahme von Rattle in den Händen zu halten.
Was der britische Dirigent hier bei Britten zu gestalten weiß, ist wirklich außergewöhnlich. Obwohl das Hauptinteresse dem Tenor Ian Bostridge gilt, ist es immer wieder Rattles subtile, stimmungsintensive und technisch hervorragend dirigierte und gespielte Orchesterarbeit, die diese drei Werke von Benjamin Britten als eine der schönsten und stilvollsten Britten-CDs überhaupt auszeichnet. Selbst Steuart Bedford, den ich für den vielleicht besten Interpreten des englischen Meisters halte, kommt an keiner Stelle an diese zurückhaltende Intensität heran, die Simon Rattle mit seinen Berlinern erreicht. Ian Bostridge ist schlechthin der ideale Interpret dieser drei Liederzyklen, gegen den selbst Spezialisten wie Pears, Tear oder Langridge blass aussehen. Sein Vortrag ist stilistisch unanfechtbar und die dezente Emotionalität, mit der Bostridge sich ausdrückt, ist wohl einmalig in der Rezensionsgeschichte der Britten-Diskographie und damit ohne Zweifel eine der besten und wichtigsten Britten-CDs überhaupt.

Ein Heldenleben der Extreme
Supersonic – Richard Strauss: Ein Heldenleben + Le Bourgeois Gentilhomme; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; 09.2005 (81’57)
(Alain Steffen) – Die letzten Aufnahmen von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern haben uns alles andere als begeistert. Ich muss aber Aunahme zugeben, mit dem Heldenleben von Richard Strauss gelingt Rattle ein Geniestreich. Gewiss, selbst mit einem halbwegs guten Orchester bleibt die Wirkung dieses Werkes immer erhalten, auch routinierte und hausbackene Interpretationen können dem Heldenleben nichts anhaben. Rattle aber geht einen Schritt weiter und schwelgt nicht nur in der wundervollen Klangopulenz dieses Meisterwerks. Der britische Dirigent zögert nicht, die Dissonanzen mit einer derart aggressiven und schrillen Betonung herauszuziehen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Auf der anderen Seite bleibt der Klangrausch selbstverständlich erhalten, und die Dissonanzen und musikalischen Querschläger werden sehr logisch in das ganze Klangbild miteinbezogen, so dass man nie den Eindruck des Auseinanderbrechens erhält.
Rattles Heldenleben besitzt mehrere Dimensionen und dank der phänomenalen Leistung der Berliner Philharmoniker wird man es einfach nicht satt, diese Aufnahme wieder und wieder anzuhören, um wirklich bei jedem Mal wieder etwas Neues darin zu entdecken. Rattle erweist sich hier als absoluter Gegenpol zu Christian Thielemann, der auf seine ebenso geniale Art mit den Wiener Philharmonikern ein Heldenleben eingespielt hat, das diesem hier diametral gegenübersteht. Gegen das Heldenleben hat natürlich ‘Le Bourgeois Gentilhomme’ überhaupt keine Chance, auch wenn hier ebenso gekonnt musiziert wird. Diese nette Orchestersuite hätte man besser durch andere Tondichtungen ersetzt und sie später dann mit anderen, kammermusikalischeren Werken gekoppelt.

Überflüssiger Dvorak
♪♪♪ – Antonin Dvorak: Tone Poems; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 3 & 6.2004 (83’45)
(Alain Steffen) – Wenn Simon Rattle so gekünstelt wie auf diesem Booklet lächelt, dann spornt das den Käufer nicht gerade an, sich für gerade diese Tondichtungen von Antonin Dvorak zu entscheiden. Und man lässt in der Tat besser die Finger davon, es sei denn, man ist ein absoluter Rattle-Fan oder will unbedingt die Berliner Philharmoniker in diesem Repertoire hören. Ich kenne diese Tondichtungen in etlichen Einspielungen, habe sie aber noch nie so gelangweilt und stimmungslos gehört wie hier. Routine bei Rattle, Routine bei den Berlinern, nein, damit macht man keine Pluspunkte. Doch man soll nicht verallgemeinern. ‘Die Mittagshexe’ und ‘Der Wassermann’ gelingen Rattle etwas besser als ‘Das Goldene Spinnrad’ und ‘Die Waldtaube’, wo Rattle zeigt, dass er mit diesem Repertoire nun rein gar nichts anfangen kann. Wir geben nur drei Pünktchen, weil hoch gepriesene Profis sich solche Schnitzer einfach nicht leisten dürfen.

Manierierter Schubert
♪♪ – Franz Schubert: Symphonie Nr. 9 in C-Dur; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2005 (57’48)
(Remy Franck) – Völlig unausgegoren, manieriert bis zum Geht nicht mehr: Schuberts ‘Große’, die Neunte, mit den Berliner Philharmonikern und Herrn Rattle. Überflüssig!

Große Unterschiede
♪♪♪ – Dmitri Shostakovich: Violinkonzert Nr.1; Sergei Prokofiev: Violinkonzert Nr.1; Sarah Chang, Violine, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2005 (59’35)
(Remy Franck) – Gegensätzlicher könnten zwei Werke auf einer CD wohl kaum sein: In Prokofievs ungewohnt lyrischem und leuchtend optimistischen ersten Violinkonzert kommt seine gerade entbrannte Liebe zu Nina Mescherskaja zum Ausdruck, während Shostakovich in seinem Werk die Repressalien von Stalins Regime verarbeitete.
Sarah Chang und Rattle können dem Prokofiev-Konzert recht wenig abgewinnen. Das ist Routine, mehr nicht. Im Shostakovich hingegen kommt ungemein viel Intensität und Leidenschaft zum Ausdruck, und wir erleben eine der packendsten Interpretationen, die wir je gehört haben.
Fazit: Nicht nur die Werke sind sehr unterschiedlich, auch die Darbietungen, und das bringt Minuspunkte.

Shostakovich, sanft veredelt
♪♪♪♪ – Dmitri Shostakovich: Symphonien Nr. 1 & 14; Karita Mattila, Sopran, Thomas Quasthoff, Bass, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahmen 06.2005 & 09.2005 (86’08)
(Alain Steffen) – Rattles Shostakovich besticht in allererster Linie durch orchestralen Wohlklang, und man kann vom phänomenalen Spiel der Berliner Philharmoniker nur angetan sein. Dadurch werden allerdings alle Kanten und Ecken sowie alle dramatischen Ausbrüche abgerundet, was der Musik einen großen Teil ihrer Schärfe und damit ihrer Identität nimmt. Dennoch ist es fast unmöglich, von Rattles Interpretationen nicht fasziniert zu sein. Mit seinem Berliner Sound lullt er den Hörer förmlich ein und nimmt ihn mit durch eine Reise von wunderschönen Details, präzisen Soli und üppigen Klangwelten. Eine Welt, die fast so schön und falsch ist wie die von Disneyland. Man kann sich aber ohne Bedenken auf Rattles sanft veredelten Shostakovich einlassen, wissend, dass man die wahren Tiefen seiner Musik allerdings woanders suchen muss. Die beiden Solisten Mattila und Quasthoff sind vorzüglich, und vor allem der Bass geht voll in dem schön klingen Strom der Musik auf.

Planeten und Asteroiden
♪♪♪♪ – Gustav Holst: The Planets; Kaia Saariaho: Asteroid 4179 – Toutatis; Matthias Pintscher: Towards Osiris; M.A. Turnage: Ceres; Brett Dean: Komarov’s Fall; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 03.2006 (94’51)
(Remy Franck) – Nicht so streng, wie man es gewohnt ist, nicht so martialisch dirigiert Simon Rattle den ersten Teil der Planeten von Gustav Holst. Fast verspielt kommt der Satz daher, als musikalisches ‘Kriegsspiel’. Auch in den übrigen Sätzen der Suite fällt auf, wie nuancenreich der Dirigent vorgeht, wie sorgsam er Steigerungen aufbaut, wie entspannend Entladungen bei ihm sind, wie viel Poesie er in Holst Musik entdeckt, die oft glatt überspielt wird. Am ehesten drängt sich natürlich der Vergleich mit einem seiner Vorgänger auf, Herbert von Karajan, dessen Aufnahmen vor allem die erste, als Referenzen in diesem, Repertoire gelten. Wo Karajan zupackender vorgeht, demonstrativer auch, fächert Rattle die Musik mit einer wunderbaren orchestralen Transparenz und viel Ausgewogenheit auf. Besonders deutlich wird das in ‘Saturn the Bringer of Old Age’, wo ganz verschiedenen Stimmungen, von Torschlusspanik bis hin zu abgeklärter Ruhe, deutlich werden. Rattles Planeten sind mithin menschlicher und weniger planetarisch als die von Karajan, der aber im Jupiter den Mittelteil mit seinem ergreifenden Hymnus kantabler und dadurch packender darstellt.
Rattle hat Colin Matthews’ Pluto aus dem Jahr 2000 übernommen, mit dem die Reihe der Planeten vervollständigt wird. Pluto war zurzeit von Gustav Holst noch nicht entdeckt worden. Er hat aber auch drei weitere Komponisten beauftragt, die Planeten um Asteroiden zu erweitern: Saariaho, Pintscher und Turnage. Keines der Stücke will mir so richtig gefallen. Auch Brett Deans ‘In Memoriam’ für den verunglückten sowjetischen Kosmonauten Mikhailovich Komarov bringt musikalisch recht wenig. Als Bonus gibt es ein 15-minütiges Interview mit Simon Rattle zur Entstehung von ‘The Planets’ und ‘Asteroids’.

Adler und Schmetterling
♪♪♪♪ – Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 (Romantische, Fassung 1886, Nowak); Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 10.2006 (71’05)
(Remy Franck) – Die mächtigen Flügel des Adlers spannt Simon Rattle in dieser Romantischen Symphonie ebenso aus wie die zarten Schmetterlingsflügel. Er schichtet Klangmassen zu überwältigender Höhe und wahrt dabei eine phänomenale Klarheit in Verbindung mit subtilsten Farbtexturen. Und so sind denn Atem, Strukturvielfalt und Präzision in optimalen Werten vorhanden: Mit dem Adler erkunden wir die weiten sonnigen Höhen, mit dem Schmetterling, die Details bis hin zum Regentau auf den wundervoll farbigen Alpenblumen. Das Emotionale dieser Erkundungen berührt uns dabei genauso wie der ätherisch-traumhafte Charakter des langsamen Satzes. Auch die Tiefe der Empfindungen, böse Ahnungen und Zweifel werden deutlich, ohne dass je Sentimentalismus aufkommen würde. Kurzum: eine aufregend schöne und begeisternde Interpretation!

Rattle und Haydn
♪♪♪♪ – Joseph Haydn: Symphonien Nr. 88-92 + Sinfonia concertante; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 02.2007 (68’53)
(Alain Steffen) – Wenn man diesen Haydn auch nicht als Fließbandarbeit abtun kann und Rattles Spritzigkeit den Hörer durchaus mitreißt, so bleiben am Ende doch nur virtuos gespielte Symphonien, von denen es auf dem Markt eine ganze Menge gibt. Die Berliner Philharmoniker spielen (wie schon bei Karajans Haydn) einfach edel und brillant, und können die Vielfalt an musikalischen Akzenten und Nuancen nicht berücksichtigen. Eine gute Aufnahme, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Brillanter Nielsen
Supersonic – Carl Nielsen: Flötenkonzert + Klarinettenkonzert + Bläserquintett; Sabine Meyer, Klarinette, Emmanuel Pahud, Flöte, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2006 (69’23)
(Alain Steffen) – Die Klangbrillanz der Berliner Philharmoniker kommt der außergewöhnlichen Klangsprache Carl Nielsens sehr entgegen, selbst wenn das Orchester hier nur eine Begleitfunktion hat. Sowohl im Flötenkonzert mit Emmanuel Pahud wie auch im Klarinettenkonzert mit Sabine Meyer wird totales Einvernehmen demonstriert. Rattle erweist sich als kluger Gestalter und aufmerksamer Begleiter. Die Homogenität ist in beiden Werken exemplarisch und die solistischen Leistungen von Pahud und Meyer fungieren sowieso ‘außer Konkurrenz’.
Somit kann man diesen Nielsen getrost als eine Referenzaufnahme betrachten, die es schafft, beide Werke aus ihrem Schattendasein zu befreien.
Als drittes Werk hört man das selten gespielte und aufgenommene Bläserquintett, wiederum mit Meyer und Pahud, sowie mit Stefan Schweigert, Fagott, Jonathan Kelly, Oboe und Radek Baborak, Horn. Auch diese Komposition ist ein typisches Nielsen-Werk, geheimnisvoll und philosophisch zugleich. Die fünf Solisten nutzen ihre Chance und beweisen, dass dieses Quintett zu den attraktivsten seiner Gattung gehört. Die exzellente Aufnahmetechnik verspricht maximale Durchhörbarkeit und Präsenz, was besonders dem Quintett zu Gute kommt.

Stravinskys Symphonien
♪♪♪ – Igor Stravinsky: Symphonie in 3 Sätzen + Psalmen-Symphonie + Symphonie in C; Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 09.2007 (75’39)
(Alain Steffen) – Der wirkliche Pluspunkt dieser Veröffentlichung ist die Koppelung der drei Symphonien von Igor Stravinsky, die sonst meist nur als Füller herhalten müssen. Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker mit Präzision und viel Sinn für Klangästhetik, lässt die drei Werke aber immer in sehr modernem Gewand erscheinen. Im Gegensatz zu Karajan, der die Klangopulenz der Berliner für einen zuckersüßen, sehr persönlichen und gewöhnungsbedürftigen Stravinsky benutzte, den Hörer aber irgendwie immer zu faszinieren wusste, ist Rattle weit näher an den Intentionen des Komponisten, ohne aber an die Präsenz und Faszination Karajans heranzureichen. Die Musik ist geschärft, die Rhythmen klar, die Akzente deutlich, die Modernität in jedem Takt präsent. Trotzdem und trotz aller Vorzüge will sich trotzdem die Begeisterung nicht so recht einstellen. So hört man sich die drei Werke zwar mit Interesse an, ist aber zu keinem Moment wirklich gefangen. Und hat man sich die Aufnahme angehört, legt man sie beiseite und hat sie schon vergessen. Nun, vielleicht sehen das wirkliche Stravinsky- oder Rattle-Fans aber ganz anders.

Wahn und Höllenfeuer
Supersonic – Hector Berlioz: Symphonie Fantastique + La Mort de Cléopâtre; Susan Graham, Mezzosopran, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahmen 05 & 07.2008 (75’59)
Wenn es derzeit eine Aufnahme der Symphonie Fantastique gibt, die dem revolutionären Charakter dieses Werkes wirklich Rechnung trägt, dann wohl diese Interpretation der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle. Selbst wenn man ein Dutzend hervorragender Aufnahmen dieses viel gespielten, viel geschundenen und oft aufgenommenen Werkes besitzt, durch Rattle erfährt man erst wirklich, wie ungeheuer modern die Musik ist. Unter seinem werkkundigem und sehr engagierten Dirigat bieten die Berliner Philharmoniker so ziemlich alles auf, um den Wahn und das Höllenfeuer, die diese Musik durchdringen, detailgetreu, virtuos und authentisch in Klang umzusetzen.
Der Hörer erlebt ein Wechselbad der Gefühle aufgrund, einerseits, der angesprochenen extremen Modernität, andererseits, einiger ungemein poetischer, weltverlorener Momente, die von allem Irdischen losgelöst scheinen. Die Gegenüberstellung dieser diversen Kräfte bringt natürlich eine ungeheure Dynamik und Dramatik mit sich, die man so wohl noch nicht oft gehört hat.
Erstklassig auch das zweite Werk der CD: Susan Graham und Simon Rattle ergänzen sich bei ‘La Mort de Cléopâtre’ auf schönste Weise, so dass auch dieses Werk hier Referenzcharakter erhält.

Willis gegen Rattle
Supersonic – Maurice Ravel: L’enfant et les sortilèges, fantaisie lyrique en deux parties + Shéhérazade pour soprano et orchestre; Julie Boulianne, Geneviève Després, Kirsten Gunlogson, Philippe Castagner, Ian Greenlaw, Kevin Short, Chœur de garçons de Chattanooga, Membres du Chœur Symphonique de Nashville, Membres du Chœur Symphonique de Chicago, Orchestre Symphonique de Nashville, Alastair Willis; Naxos 8.660215; Aufnahme 12.2006 (62’10)
♪♪ – Maurice Ravel: L’enfant et les sortilèges + Ma mère l’oye; José van Dam, Sophie Koch, Magdalena Kozená, Annick Massis, Nathalie Stutzmann, Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2008 (72’58)
(Remy Franck) – Was für eine angenehme Überraschung! Eines der französischsten Stücke überhaupt (trotz einiger englischer Wörter in Colettes genialem Text) liegt uns in einer der besten Versionen vor, die je eingespielt wurden, und das mit amerikanischen und kanadischen Künstlern. In Nashville hat Naxos diese Produktion von Ravels ‘L’Enfant et les sortilèges’ realisiert. Der amerikanische Dirigent Alastair Willis verwebt das Werk mit großer Sorgfalt zu einem leichten, transparenten und spritzigen Klang. Die gut aufgelockerte Orchesterbegleitung lässt den Sängern den nötigen Raum, um den Text ebenso engagiert wie stimmlich qualifiziert so zu gestalten, dass er für den Zuhörer voll verständlich wird. Das gilt übrigens auch für die drei Gedichte von Tristan Klingsor aus dem Scheherazade-Zyklus, die von der kanadischen Mezzosopranistin Julie Boulianne wunderbar gesungen werden.
Die EMI-Version von Simon Rattle hätte nicht schlechter sein können: Mit Magdalena Kozénas viel zu « erwachsenem » Kind und einer zu gekünstelten, zu gesetzten Interpretation, die weit von der Frische der Amerikaner entfernt ist, verblasst Rattles Version gegenüber der Naxos-Aufnahme. Rattle findet nicht wirklich jene schöne Unschuld in den Tiefen der kindlichen Seele, die Willis so schön beschreibt, er ertränkt den Zauber des Ravelschen Tanzes in der Schönheit des Klanges, eliminiert aber das Mechanische, das in der Nashville-Aufnahme so gut herauskommt. Bei Rattle hat man das Gefühl, ein Gemälde zu betrachten, während man bei Willis eine sehr lebendige Bühne vor sich hat…
Es ist keine sehr schöne Version von « Ma Mère l’Oye », die uns veranlassen würde, Ihnen die EMI-Version zu empfehlen.

Rattles Retro-Brahms
♪♪♪♪ – Johannes Brahms: Vier Symphonien; Berliner Philharmoniker, Simon Ratte; Live 2008 (166′)
(Remy Franck) – Jahrelang hatte er Brahms weitgehend gemieden. Jetzt dirigiert Simon Rattle alle vier Symphonien in Aufnahmen, die 2008 live in Berlin entstanden, mit jenem Orchester, den Berliner Philharmonikern, deren Brahms-Tradition lang und reich ist, von Furtwängler über Karajan bis hin zu Abbado, Rattles Vorgängern.
Und genau in dieser Tradition agiert Rattle. Seine Interpretationen sind flüssig, manchmal zügig, klangprächtig und groß geformt, immer kommunikativ, oft mitreißend.
Doch sind, eben nach Karajan, Klangkultur und harmonisches Raffinement etwas, das ein Vorhaben wie diese Gesamtaufnahme rechtfertigt? Rattle hat zu Brahms nichts Neues zu sagen, er pflegt sogar die Durchsichtigkeit und Strukturen nicht in besonderem Maße.
So gesehen, ist es eher ein Retro-Brahms, den wir hier hören, auf hohem Niveau, gewiss, aber ohne gegenüber dem, was besteht, wirklich attraktiv zu sein.

Luxus

♪♪♪♪♪ – Piotr Tchaikovsky: Nussknacker (komplette Ballettmusik), Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2010 (86’34)
(Remy Franck) – Purer Luxus: prächtiges Orchesterspiel, 60-seitiges Booklet und viel Zusatzmaterial im Internet: EMI hat nicht gespart und für den Nussknacker richtig viel Geld ausgegeben. Wäre die Tonaufnahme nur etwas brillanter oder gar im Surround-Verfahren auf SACD, da hätten viele audiophile Herzen gejubelt. Doch auch so ist schon vieles vorhanden, um begeistert zu sein. Dank der Berliner Philharmoniker, die Tchaikovskys Partitur in schönsten Farben erblühen lassen. Ohne zu forcieren, ohne jegliches Übertreiben machen sie die Musik zur großen Kunst und zum Wunder der Klangästhetik. Karajan wird’s warm um sein Himmelherz werden!

Ich bleibe bei Rattle 1
♪♪♪♪ – Gustav Mahler: Symphonie Nr. 2, Auferstehungssymphonie; Kate Royal, Magdalena Kožená, Rundfunkchor Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 10/10 (86’23)
(Remy Franck) – Simon Rattle befasst sich seit vielen Jahren immer wieder mit Mahlers Auferstehungssymphonie und legt nun, nach der Aufnahme mit den Kräften aus Birmingham, seine zweite Einspielung bei EMI Classics vor, diesmal mit den Berliner Philharmonikern. Was bei der Einspielung aus Birmingham Begeisterung erweckte, ist diesmal mit mehr Detailarbeit, mit mehr Rubato, mit mehr Gefühlsverströmung nicht mehr so eindeutig gut wie 1986. Gewiss, Rattle bringt in das Werk immer noch sehr viel Kraft ein, aber er setzt die Musik nicht mehr so sehr unter Hochspannung.
Es gibt dafür mehr Stellen, wo man wegen besonders feiner Auslegung der Musik den Atem anhält. 1986 wählte Rattle schon relativ langsame Tempi, diesmal ist er im ersten Satz noch etwas langsamer. Doch es sind nicht die rund 20 Sekunden, die den Eindruck ‘langsam’ erwecken. Der kommt eher, weil es immer wieder Strecken gibt, denen es an Innenspannung fehlt. An anderen Stellen leuchtet er Mahlers gewaltiges Klangspektrum wirklich packend aus.
Und wenn man beide Aufnahmen mit einigen anderen vergleicht, die nach 1986 erschienen, dann zeigt sich, dass Rattle weder damals noch heute im 3. Satz Mahlers Teufelei gerecht wird. Und in etlichen anderen Versionen gibt es durchaus mehr Drama als in dieser und auch mehr Emotion im Drama. So gesehen ist diese Einspielung (mit, im Übrigen, akkuraten Darbietungen von Frau Rattle und Kate Royal sowie des Chores) als ‘sehr gut’ im Gesamtangebot einzuordnen, aber leider nicht als ‘herausragend’. Und wer Rattle I hat, muss Rattle II nicht unbedingt haben.

Der Spezialist
♪♪♪♪♪ – J. Brahms/ A. Schönberg: Klavierquartett Nr. 1, op. 25 (Orch. Schönberg); Arnold Schönberg: Begleitmusik für eine Filmszene, op. 34 + Kammersymphonie Nr. 1 (Version für großes Orchester); Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 2009 (73′)
(Pierre-Jean Tribot) – Simon Rattle liebt die Schönbergsche Orchestrierung von Brahms’ Klavierquartett Nr. 1! Dieses Stück, wie auch Mahlers Symphonie Nr. 10, begleitet ihn seit seinen jungen Jahren und er hinterlässt hier seine dritte Aufnahme davon, nach denen mit seinem Birmingham Orchestra (1984 für EMI) und nach einer Videoaufnahme, die 2004 von Euroarts aufgenommen wurde! Rattle ist also zweifellos der Spezialist für dieses Werk!  Mit der Zeit gelingt es ihm, die Technicolor-Orchestrierung zu dekantieren und zu vertiefen. Im Gegensatz zu Eschenbachs Houston (RCA), der die Dezibel und die Effekte in die Höhe trieb, achtet der englische Dirigent mehr auf das Gleichgewicht und die Details, als wolle er diese sehr freie Interpretation der Brahms’schen Faser vom Gestrüpp befreien. Die matten Farbtöne und die eher hervorstechende Dynamik der Berliner Philharmoniker geben die Aspekte des Dirigats ihres Musikdirektors gut wieder. Zusammen mit Christoph von Dohnanyis Lesung mit den Wiener Philharmonikern (Decca) ist dies der Höhepunkt der Diskographie.
In der Begleitmusik für eine Filmszene wird Rattle zum Erzähler und erzählt wahrhaftig die Geschichte des Programms der Partitur, die sich hinter ihrer Zwölftonlogik verbirgt. Die Brüche im Diskurs und die markanten Züge der Orchestrierung treten aus dieser intellektuell und musikalisch gleichermaßen intelligenten Arbeit hervor. Selten war Schönbergs Musik dramaturgisch so verführerisch in der Wiedergabe ihrer Stimmungen und Farben. Man kommt dazu, die Lesart von Boulez (Sony) zu vergessen.
In der Kammersymphonie Nr. 1 präsentiert Rattle die Orchesterversion, die auf CD sehr selten zu hören ist. Auch hier versteht es Rattle, die vertikale und horizontale Vertiefung der Rede zu kombinieren. Die technische Perfektion des Berliner Orchesters lässt diese Partitur in einem Fest der Virtuosität erstrahlen.
Zusammen mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9 (EMI) ist dies die beste CD des Tandems Rattle/Berlin. In Anbetracht der großen Leichtigkeit des Dirigenten in diesem Wiener Repertoire wäre es interessant, weiterhin den Grundstein für eine Gesamtaufnahme Schönberg-Berg-Webern zu legen, anstatt die (oft nutzlosen) CDs des Dirigenten im großen Repertoire zu vervielfachen.

Bruckners Neunte mit vier Sätzen
♪♪♪♪ – Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9 mit rekonstruierten 4. Satz; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Live 02.2012 (82’10)
(Remy Franck) – Nach seiner spannenden Aufnahme der Vierten, kehrt Simon Rattle nun zu Bruckner zurück und dirigierte die Neunte. Und er führt nicht die unvollendete Fassung auf, sondern eine mit dem rekonstruierten vierten Satz, den Bruckner vor seinem Tod nicht mehr fertig stellen konnte. Die Diskussion, ob das Adagio als Abschied des Komponisten nicht treffender ist als der von anderen vollendete vierte Satz, soll hier nicht geführt werden. Dazu ist diese Konzertfassung an der Nicola Samale, John Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs, und Giuseppe Mazzuca jahrelang gearbeitet haben, zu interessant.
Doch da sind zunächst einmal die ersten drei Sätze: genau wie in der Aufnahme der Romantischen Symphonie überzeugt Rattle mit einer phänomenalen Transparenz in Verbindung mit subtilsten Farbtexturen. Rattle und die Berliner begeistern denn auch klanglich durch eine wunderbare orchestrale Fülle. Rattle dirigiert mit starkem Atem und dringt intensiv in die Musik ein, um deren Strukturvielfalt und Klanglayer hörbar zu machen. Die Berliner setzen das berauschend um! Die grandios aufschäumenden Steigerungen, die liebevoll behandelten zarteren Passagen, das Ein- und Ausatmen sind von einer unglaublichen Intensität und erlauben es dem Hörer immer wieder, Neues zu entdecken. Die himmelsstürmenden Posaunenklänge im Adagio sind genauso begeisternd wie die zarten Streicher- und Flötenklänge im weiteren Verlauf des Satzes, und Rattle hält alles so zusammen, dass der große Spannungsbogen gewahrt bleibt,
Zum rekonstruierten vierten Satz (Finale. Misterioso. Nicht schnell) sagt einer der an der Arbeit beteiligten Musikwissenschaftler, Benjamin-Gunnar Cohrs: « Das hier präsentierte Endergebnis umfasst 653 Takte. 440 Takte entsprechen Bruckners Partiturbogen. 208 davon hat er bereits vollständig instrumentiert; vom Rest lag zumindest der Streichersatz nebst etlichen Vorskizzierungen geplanter Bläserstimmen vor. Der Verlauf weiterer 117 Takte konnte aus Skizzen und ausgeschiedenen Bogen rekonstruiert werden. 96 Takte mussten durch musik-forensische Techniken wiedergewonnen werden, doch nur für 37 davon war überhaupt keine Musik Bruckners mehr vorhanden. Die Aufführungsfassung des Finales ist damit von Fremdzutaten weitaus freier als beispielsweise die von Mozarts Requiem. »
Zerklüftete Musik gibt es bei Bruckner nicht wenig. Aber so zerklüftet und im Grunde auch verängstigt hat er nichts Anderes geschaffen. Es gibt hier weitaus mehr Fragen als Antworten, und mehr noch: Bruckner scheint hier in seinem letzten Finale noch einmal alle Elemente seiner Symphonik Revue passieren zu lassen, reich an sehr unterschiedlichen Motiven: ein wahrlich absonderlicher, streckenweise fremdartiger, fast schon experimenteller, jedenfalls aber nervöser und rastloser Satz von fast 23 Minuten, der mit einem grandios strahlenden Finale endet. Und wieder einmal ist es auch hier das souveräne und engagierte Spiel der Berliner Philharmoniker, das für Begeisterung sorgt.

Kartoffel-José
♪♪♪ – Georges Bizet: Carmen (Oeser-Fassung): Magdalena Kožená (Carmen), Jonas Kaufmann (Don José), Genia Kühmeier (Micaëla), Kostas Smoriginas (Escamillo), Christian van Horn (Zuniga), Andrè Schuen (Moralès), Christina Landshammer (Frasquita), Rachel Frenkel (Mercédès), Jean-Paul Fouchécourt (Remendado), Simone del Savio (Dancairo), Chor der Deutschen Staatsoper Berlin, Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2012 (150′)
(Remy Franck) – Nur in den Spitzentönen klingt Jonas Kauffmanns Don José wirklich gut. Die meiste Zeit über singt er, wie immer, wenn er eine andere Sprache als Deutsch benutzt, mit seltsam gaumiger Stimme, so als habe er eine heiße Kartoffel im Mund. Das belastet diese Neueinspielung sehr, die mit  Dreamteam-Slogans angekündigt wird und weit davon entfernt ist, an früher gültige Standards in diesem Werk anzuknüpfen.
Ob Magdalena Kozena Angst hatte, in Klischees zu verfallen? Ihre Carmen klingt ‘neutral’, charakterlich zurückhaltend, fraulich und intelligent gesungen. Die Stimme an sich ist recht klangschön, reich verziert und durchwegs gut geführt. Aber es fehlt etwas an dieser Carmen.
Mit ihrer warmen, goldig leuchtenden und verinnerlicht geführten Stimme erinnert Genia Kühmeier an Mirella Frenis Micaëla. Die übrigen Rollen sind anständig besetzt. Die Berliner Philharmoniker spielen perfekt, lebendig und pflegen unter Rattles sicherer Leitung das Detail in Bizets Musik. Was fehlt, ist auch hier etwas Leidenschaft. Und so ist, unter dem Strich, das angekündigte ‘Opernereignis des Jahres’ gar keins geworden.

Hitzig
♪♪♪♪♪ – Igor Stravinsky: Le Sacre du printemps, Bläsersymphonien, Apollon musagète; Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; Aufnahme 2007-12 (75’36)
(Remy Franck) – Ein fulminanter ‘Sacre du Printemps’: die Berliner Philharmoniker spielen mit berserkerhafter Wollust. Man hört Phrasen, die in dieser Rhetorik sonst nicht deutlich werden. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die Musik in Rattles Interpretation mehr ‘spricht’, mehr Dialog, mehr Ausrufe, mehr Dramatik also vorhanden sind als in anderen Aufnahmen, auch wenn sie genau so viel Intensität zeigen wie diese hier. Das was Rattle – übrigens in einer dynamisch stupenden Bandbreite – inszeniert, ist beängstigend ‘real’.
Die ziselierten, klanglich und spieltechnisch faszinierenden Bläsersymphonien, ein selten gespieltes Werk aus dem Jahre 1920, leiten über zu ‘Apollon musagète’, wo Rattle in unmittelbare Konkurrenz zu der vielleicht besten je von diesem Werk gemachten Aufnahme tritt, jener von Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern. Die schiere Eleganz dieser Interpretation, das orchestrale Raffinement und eine genau dosierte Expressivität situierten Apoll klar und deutlich als Liebling der Musen und als rassig-sensuellen Beherrscher des Parnass. Rattle trägt viel dicker auf, formt mit dem Streichensemble einen dichten und pastosen Sound, der mit dem ‘à la française’-Charakter, den Stravinsky erzielen wollte, nicht mehr viel zu tun hat. Dass die Rattle-Version dennoch gefällt, liegt daran, dass er offensichtlich visueller denkt als Karajan, der abstrakter und irgendwie auch mystischer vorgeht: Rattle inszeniert das Ballett und suggeriert ständig Figuren und Handlungen.
Also: dies ist eine starke Stravinsky-CD, die insbesondere wegen dem hitzigen ‘Sacre du Printemps’ empfehlenswert ist.

  • Pizzicato

  • Archives