Kapustins Musik verbindet Jazz und Klassik. Das muss der Interpret dann auch wiedergeben können. Ist das eigentlich schwierig?
Ich bin als klassischer Pianist aufgewachsen und habe eine ganz klassische Klavierausbildung genossen. Durch meinen Schlagzeuglehrer, den ich schon als kleiner Junge hatte, habe ich wiederum den Jazz kennengelernt und daneben auch afrikanische und lateinamerikanische Musik. Als Teenager habe ich dann beides miteinander verbunden und neben der Klassik auch viel Jazz gespielt, darunter Gershwin und eben auch Kapustin.
Für mich ist Kapustin der Komponist, der genau dazwischen liegt. Natürlich ist bei ihm alles ausnotiert. Aber nur, wenn man die grundlegenden Elemente des Jazz kennt, das freie Spielen, die Improvisation, dann kann man seine Musik so spielen, wie sie von ihm gedacht ist. Der Inhalt ist Jazz, auch wenn die Form klassisch ist. Kapustin ist eine perfekte Verschmelzung von Klassik und Jazz.
Nun ist ja das Improvisieren, das früher in der Klassik gang und gäbe war, etwas aus der Mode gekommen.
Ja, und das ist sehr schade. Es ist natürlich toll, wenn man alles nach Noten spielen kann, aber ich finde es auch schön, ein Stück spontan am Klavier zu spielen, ohne Noten und ohne stundenlang davor zu üben. Ich mache das oft für mich selbst, zum Einspielen oder zwischendurch, um durchs Improvisieren den Kopf wieder klar zu kriegen. Und ich gestalte manchmal nach einem Klavierkonzert die Zugabe als freie Improvisation. Ich nehme beispielsweise aus dem Schumann-Konzert etwas Material, über das ich dann frei improvisiere. Und ich merke, dass das Publikum darauf sehr stark reagiert, weil wir alle diese Spontanität mögen. Und ich kann sagen: So habe ich das noch nie gespielt und so werde ich es nie wieder spielen, das war eine Momentaufnahme. Das ist etwas Kostbares in einem Konzert. Kapustin macht in diesem Sinne eigentlich genau das Gegenteil, weil er Improvisation ‘komponiert’ und tatsächlich auch par excellence. Ich kenne wirklich keinen Komponisten, abgesehen vielleicht von Beethoven, der Improvisationen so gut aufs Papier bringen konnte.
Werden wir von Ihnen noch mehr Kapustin hören?
Wir haben ja jetzt neben der CD mit Konzerten auch unsere Blueprint-CD (Pizzicato-Rezension) mit Klavier-Solostücken von Kapustin veröffentlicht. Darauf haben wir den originalen Klavierpart um eine Besetzung mit Kontrabass und Drums ergänzt, um so Kapustin noch näher zum Jazz zu bringen, wo er meines Erachtens nach eigentlich hingehört. Seine Musik bietet viele Gestaltungsmöglichkeiten. Beim Lucerne Festival 2021 habe ich diese Klavierwerke solo gespielt. Es war übrigens das erste Mal, dass Kapustin beim Lucerne Festival aufgeführt wurde. Zwischen seinen Jazz-Preludes habe ich immer wieder improvisiert und damit von einem Stück zum nächsten übergeleitet. Ähnlich habe ich das bei den Variations gemacht. Diese Variationen hat Kapustin über die Urmelodie geschrieben, die Igor Stravinsky zu Beginn seiner Ballettmusik Le Sacre du Printemps verwendet hat. Als Intro zu Kapustins Variations habe ich dann selbst Jazz-Improvisationen über Stravinsky-Themen aus dem Sacre gespielt, aus dem Kopf heraus und sehr spontan. Mein Ziel dabei war es, dass das Publikum irgendwann nicht mehr genau sagen konnte, wo die Improvisation endete und wo die Komposition begann.
Aber Sie dirigieren auch?
Ja. Auch auf der ersten Kapustin-CD (Pizzicato-Rezension) dirigiere ich die Chamber Symphony, von der es bisher keine komplette Aufnahme gab. Beim Dirigieren liegt natürlich die Partitur vor. Aber auch da versuche ich nie immer die gleichen Bewegungen zu machen, um auch so die Spontanität beim Orchester herauszukitzeln.
Sie wurden 2012 für eine Beethoven-Interpretation als Pianist und Dirigent mit dem 1. Preis beim Internationalen Hans-von-Bülow Wettbewerb ausgezeichnet. Ich stelle immer wieder fest, dass diese Doppelfunktion manchmal gut funktioniert, aber vielleicht sogar öfter nicht. Wo liegen da die Grenzen, was darf man, was darf man nicht?
Möglich ist diese Doppelfunktion für mich vor allem bei klassischen Werken und Kompositionen der Moderne. Shostakovichs Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 funktionieren gut. Ob ich ein Klavierkonzert von Kapustin vom Klavier aus dirigieren würde, werden wir noch sehen. Ein Brahms-Konzert würde ich eher nicht in dieser Doppelfunktion gestalten. Da ist schon so viel Symphonie drin und anderseits ist der Klavierpart allein auch sehr groß. Man hat eigentlich schon fast zwei Orchester. Das eine davon ist das Klavier.
Und was bringt es, wenn man ein passendes Stück vom Klavier aus dirigiert?
Ich mache das, weil ich es wirklich liebe! Ich hatte die Ehre, bei Peter Eötvös Dirigieren studieren zu dürfen. Er war es auch, der mir diese Doppelfunktion nahegelegt hat. Die Arbeit mit dem Orchester ist mir sehr wichtig. Sehr spannend dabei ist, wie sich alles von der ersten Probe bis zum Konzert entwickelt. In der ersten Probe bin ich zu 80 Prozent Dirigent, weil es dann vor allem um die Orchesterarbeit geht. Das Schöne ist, dass ich beim Dirigieren vom Klavier aus meine Interpretation als Solist direkt auf das Orchester übertragen kann. Im Konzert dreht sich das Verhältnis um. Dann bin ich zu 80 Prozent der Solist, aber ich bleibe mit Augen, Ohren und Körper auch immer ganz tief im Orchester drin. Und ich stehe dabei ununterbrochen mit den Musikerinnen und Musikern in Kontakt. Das ist für beide Seiten eine wunderbare Bereicherung. Das ist wie Kammermusik im Großformat.
Kammermusik ist ja aber etwas, was Sie gerne machen. Ihre neueste CD mit dem Bratschisten Timothy Ridout war ja auch bei den ICMA nominiert (Pizzicato-Rezension).
Das ist wiederum ein ganz anderes Gebiet. Und bei der CD mit Timothy Ridout kommt noch das Lied hinzu. Ich mache in meinem Klavierspiel einen Unterschied, ob ich Kammermusik oder Liedbegleitung spiele. Beim Lied oder wie hier im Duo mit der Bratsche, die den Gesangspart spielt, muss ich ein Klangbett vorbereiten. Bei der Kammermusik, ich denke z.B. an Prokofiev, da kann man schon anders in die Tasten greifen. Es geht mir wirklich darum, die einzelnen Gattungen, Solo, Kammermusik, Liedbegleitung oder Konzerte mit Orchester genauso klanglich voneinander zu trennen wie die verschiedenen Epochen. Beethoven ist nicht Ravel und selbst Schumann im Klavierkonzert sehe ich anders als Schumann in der Dichterliebe.
Wird es dennoch nicht zu einem gewissen Zeitpunkt in Ihrer Karriere vielleicht hat einen Schwerpunkt geben? Mehr Dirigieren, mehr Kammermusik? Es gibt ja Pianisten, die plötzlich nur noch dirigieren.
Also im Moment genieße ich die Vielfalt. Ich genieße es, wenn ich ein Konzert mit einem Trompeter spiele, am nächsten Tag ein Beethoven-Klavierkonzert und dann wieder dirigieren kann. Wenn ich einen Monat lang nur Klavierrecitals hätte, würde ich das Orchester vermissen. Und umgekehrt. Das Klavier zieht mich sehr an, aber genauso die Kammermusik und die Konzerte mit Orchester. Ich wäre froh, wenn ich diesen Mix so weiter machen könnte. Die Klassik allein ist schon sehr vielfältig, und dann kommt bei mir noch der Jazz hinzu, mit wiederum sehr vielen Stilrichtungen.
Da unterscheiden Sie sich aber von vielen anderen. Viele Solisten bieten via ihre Agenturen für eine Saison oft nur ein begrenztes Repertoire an und sie spielen dann dieses oder ein anderes Klavierkonzert überall auf der Welt. Warum machen die das so? Ist der ständige Wechsel von Stilen und Gattungen gefährlich?
Ich kann es nachvollziehen, dass man sich spezialisiert. Die Beschäftigung mit einem Thema mag Sinn machen, weil ja oft ein Thema an sich schon wiederum eine große Vielfalt bietet. Wenn ich mir Beethoven anschaue, dann sehe ich, was es da alles an Musik und Möglichkeiten gibt, die man erst einmal verstehen muss. Und natürlich kann ich über ein präzises Stück von Beethoven mehr wissen, wenn ich alle seine Stücke kenne.Für mich ist der ständige Wechsel zwischen den Stilen und Gattungen schon immer Teil meines Musikerdaseins gewesen. Als Kind bin ich vom Drumset zum Klavier gesprungen: in einem Moment habe ich Rock’n’Roll gespielt, im nächsten Moment Bach. Auch heute geht es mir vor allem darum, Zusammenhänge aufzuzeigen, Brücken zwischen den Genres zu bauen und neue Perspektiven herzustellen, die Musik aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Was bedeutet die Auszeichnung der ICMA für Sie?
Für mich persönlich ist diese Auszeichnung eine ganz große Freude und Ehre. Die großartige Musik von Nikolai Kapustin einzuspielen, war schon lange eine Herzensangelegenheit von mir. Ich möchte dem Labels Capriccio, dem Württembergischen Kammerorchester, Dirigent Case Scaglione und meinen Partnern Rosanne Philippens und Obi Jenne ein großes Dankeschön aussprechen, ohne deren besonderen Qualitäten die Umsetzung unserer Kapustin-CD nicht möglich gewesen wäre. Ein großer Wunsch ist es, Kapustins Werke auf die Bühne zu bringen und dieses einzigartige, noch kaum gehörte Repertoire mit vielen Zuhörerinnen und Zuhörern zu teilen und dass wir die Konzertsäle so richtig rocken!