In der Musikwelt gibt es die sogenannten Stars und es gibt eine Unmenge Künstler, die nicht unbedingt jeder kennt. Sie gehören zu letzteren, als jemand, der ganz ernsthaft arbeitet, viele Konzerte gibt und viele Platten macht, und ich nehme mal an, dass Sie den Medienrummel auch nicht mögen…
Ich las einmal in einem Artikel, ich sei der Antistar der Szene, und das gefiel mir eigentlich ganz gut, denn mit diesem Attribut kann ich besser leben als mit allem anderen. Für mich stellt sich zunächst die Frage: Für wen mache ich die Musik und für wen will ich Musik machen? Und da ist meine Position eigentlich ganz klar, denn Musik ist ja von der Materie her nicht irgendeine Klangtapete für Millionen oder Milliarden Menschen, weil man sich schon ein bisschen mit ihr beschäftigen muss. Also ich wende mich wirklich, auch wenn das jetzt hochgestochen klingen mag, an Leute, die musikbegeistert sind, an Menschen, denen die Musik so viel bedeutet wie mir. Mit denen möchte ich meine Musik gerne teilen.
Also ist Musik für Sie etwas Elitäres?
Das Wort elitär hat einen negativen Beigeschmack, aber ich verstehe, was Sie meinen, und ich stimme dem wirklich zu. Musik ist eine Kunstform, die vom Menschen auch etwas verlangt, aber dann ist sie auf der anderen Seite etwas Wunderbares, weil demjenigen, der sich um sie bemüht, dem erschließt sie sich natürlich, und die Belohnung, die man daraus bekommen kann, ist viel größer als im Falle seichter Unterhaltung.
Sie sind auch bekannt dafür, besonders kompromisslos zu sein.
Für mich ist das normal.
Aber nicht für jeden, heute!
Jetzt müsste ich die Gegenfrage stellen: Sollte das nicht normal für jeden sein? Musik ist nichts Beliebiges, Musik stellt sehr hohe Anforderungen, Musik ist eine kompromisslose Kunst. Müssen wir als ausführende Musiker dann nicht auch kompromisslos sein?
Aber ganz oft hapert es ja einfach nur an der Probezeit, die zu knapp bemessen ist.
Das kann in manchen Fällen ein Problem sein, ist es aber selten. Wenn man mit Orchestern und Dirigenten arbeitet, dann hat man ja auch mit wirklich professionellen und gutwilligen Musikern zu tun, und es ist eigentlich mehr eine Legende, dass es da zu Reibungsverlusten kommt.
Es geht ja aber doch auch um Charaktere, um das Ego des einen und des anderen, des Solisten und des Dirigenten unter Umständen.
Wenn es erst einmal dazu kommt, ist es schon zu spät. In der Regel ist es tatsächlich so, dass die Musik im Vordergrund steht, und was immer es an Differenzen gibt, im Sinne unterschiedlicher Auffassungen, lässt sich meistens argumentativ regeln. Manchmal kann das auch eine sehr interessante Spannung sein, denn wenn zwei unterschiedliche Auffassungen aufeinander treffen, und neue Aspekte in eine Interpretation bringen. Ich möchte ja auch nicht mit jedem Orchester und Dirigenten partout die gleiche Interpretation abliefern.
Sie sind bekannt dafür, dass Sie eine sehr persönliche Musiksprache haben und sich manchmal sehr weit aus dem Fenster lehnen. Woher stammt dieser Drang, anders zu sein? Oder ist es einfach das Resultat einer langen Auseinandersetzung mit der Materie?
Das haben Sie gut auf den Punkt gebracht, es hat mit dem Drang, anders zu sein, nichts zu tun. Im Gegenteil, ein Pianist, der Dinge tut, nur um anders zu sein, hat automatisch schon meine Verachtung verdient und dies in kräftigstem Maße. Dies als einziges Kriterium ist eine regelrechte Perversion. Nein, sich weit aus dem Fenster hängen, bedeutet für mich wirklich, im Notentext bis zum Grund zu gehen, die Möglichkeiten heraus zu finden, die der Komponist dort verankert hat. Mein ‘Anderssein’ fußt einfach darauf, dass die Hörgewohnheiten meines Publikums aufgrund einer gewissen Tradition möglicherweise in eine falsche Richtung gegangen sind und das eigentlich Notentext-Immanente, was man dann auf dem Konzertpodium vorstellt, plötzlich für den Zuhörer anders als gewohnt klingt. Damit will ich nicht behaupten, dass das ‘Anderssein’ für sich eine Qualität darstellt, aber ich denke, dass die Beschäftigung mit dem Notentext und dieses exakte Ausloten das eigentliche Kriterium der Interpretation darstellt.
Nun ist ja eine gewisse Gefahr damit verbunden, dass man sich auch sehr viel mit der Materie beschäftigt und dass im Resultat letztlich doch so Manches recherchiert klingt.
Das ist eine der ganz großen Gefahren überhaupt, denen man aus dem Weg gehen muss. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, zu einer interpretatorischen Lösung zu kommen. Die eine Möglichkeit besteht in einem intellektuellen Kalkulieren und dieses Kalkulieren ist insofern problematisch, weil keine klangliche Basis für dieses Kalkulieren vorhanden ist. Das andere Extrem ist die Entscheidung, vieles aus dem Bauch heraus zu gestalten. Das kann je nach Begabung der bessere Weg sein, aber ich glaube, so wichtig es ist, Dinge manchmal instinktiv zu tun, so unerlässlich ist es, sich danach darüber im Klaren sein, warum bestimmte instinktive Entscheidungen getroffen wurden. Bei meinen Vorbereitungen lasse ich mir selbst sehr oft die Freiheit, bestimmte Dinge auch in meinem Studio instinktiv zu tun und ich analysiere sozusagen später, was ich da eigentlich gemacht habe, warum ich es getan habe und auch, ob es sich mit dem angestrebten Klangresultat in Verbindung bringen lässt, ob es sich aus dem Notentext heraus rechtfertigen lässt. Ich denke der Gefahr des intellektuellen Abdriften, der Künstlichkeit, wird dadurch sehr gut vorgebeugt.
Wie steht es dann mit der Texttreue, auf die Sie ja viel Wert legen?
Es mag widersprüchlich erscheinen, wenn ich sage, dass man die Texttreue nicht immer am Buchstaben fest machen kann. Texttreue bedeutet für mich viel eher Ehrlichkeit gegenüber dem Geist des Werkes und gegenüber dem Komponisten, und das wiederum ist ein weitgestecktes Feld. Der texttreue oder werktreue Interpret fragt, was er zur Gestaltung eines Werkes beitragen kann und nicht, was das Werk seiner persönlichen Karriere bringen kann. Leider habe ich in letzter Zeit das Gefühl, dass verschiedene Interpreten nicht so genau wissen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen.
Sie haben ja aber auch schon mal kleinere Eingriffe vorgenommen. Sie haben eine eigene Version der zweiten Sonate von Rachmaninov erstellt, Sie haben auch bei den ‘Bildern einer Ausstellung’ einmal im Text etwas geändert…
Grundsätzlich ist es so, dass die Werktreue von Komponist zu Komponist unterschiedlich zu definieren ist. Bei Bach und Mozart ist das ein sehr weites Feld, weil für Mozart und Bach der Zeitgeschmack ein anderer war. Wenn Sie die Briefe von Mozart lesen, in denen er andere Musiker beurteilte, war sein erstes Kriterium ‘Geschmack’ und erst dann kamen Technik und andere Dinge. Das Wort ‘Geschmack’ würde man natürlich heute anders definieren, es bedeutete nämlich nicht Willkür. Was früher, also zu Mozarts Zeiten als Geschmack bezeichnet wurde, nennt man heute Stilsicherheit. Das bezieht sich auf das intuitive Wissen des Interpreten, wie er mit einem Werk einer bestimmten Epoche umzugehen hat. Bach und Mozart vertrauten sehr auf den Geschmack des Ausführenden, die sehr oft selber Komponisten waren, und genau wussten, wie sie ein Werk zu spielen hatten. Improvisatorische Freiheiten spielten daher eine große Rolle, weshalb die Verzierungen manchmal gar nicht notiert waren und dem ausführenden Musiker überlassen wurden. Dann kam Beethoven, der in dieser Beziehung schon ins 19. Jahrhundert vorausschaute und praktisch schon den professionellen, nicht mehr komponierenden Interpreten auf sich und sein Werk zukommen sah. Schon seine ersten Sonaten sind überladen mit Vortragsbezeichnungen, er überlässt dem Interpreten eigentlich gar nichts mehr, sondern er ist von einer unglaublichen Deutlichkeit. Es gibt ja kaum eine Note in seinen Werken, bei der nicht eine Ausführungsbezeichnung steht. Wenn Sie also Beethoven spielen, müssen Sie zunächst einmal, um zum Charakter eines Werkes vorzudringen, ganz minutiös das machen, was Beethoven von ihnen verlangt, also jeder Vortragsbezeichnung folgen. Erst dann kann die eigentliche künstlerische Arbeit beginnen. Gehen wir jetzt weiter in 19. Jahrhundert – und jetzt nähere ich mich Ihrer Frage – dann kann sich diese Werktreue immer weniger am Buchstaben festmachen, weil im 19. Jahrhundert der Interpret eine Idee über die Rampe bringen musste, und diese Idee war eine philosophische, eine abstrakte, die sich gar nicht mehr so sehr an den Text binden ließ. Wunderbare Beispiele sind Werke von Chopin, die er mehrfach aufgeschrieben hat. Es gibt einige Walzer und Nocturnes, von denen es drei handschriftliche Fassungen gibt, und da ist es sehr interessant zu sehen, dass diese Fassungen immer sehr stark voneinander abweichen, weil eben ein romantisches Stück sehr viel mehr Deutungsmöglichkeiten hat. Wenn schon der Komponist bei einem neuen Manuskript diese neuen Deutungsmöglichkeiten mit einbezieht, dann bedeutet das, dass man als Interpret größere Handlungsfreiheiten hat. Und je weiter Sie ins 19. Jahrhundert hineingehen, desto größer werden diese Freiheiten. Diese Freiheiten werden übrigens vom Interpreten verlangt, der Komponist erwartet von ihm, dass er seine Persönlichkeit mit hinein bringt, und wir wissen ja aus den vielen Unterrichtsstunden von Liszt, wie sehr er seinen Schülern Freiheiten gegeben hat, auch interpretatorische Freiheiten in seinen eigenen Stücken. Er notierte ja für jeden Schüler eigene Varianten von Interpolationen und Kadenzen usw. Im 20. Jahrhundert gab es dann eine Gegenreaktion von Komponisten wie Bartok, Prokofiev und Stravinsky, die den Interpreten wieder stark an die Kandare genommen haben. Und jetzt habe ich Ihre Frage fast schon beantwortet, warum ich es mir erlaube, allerdings doch recht behutsam, in den Text von Werken einzugreifen. Das ist etwas, was viele Interpreten in der Mitte des 20. Jahrhunderts gemacht haben, kleine instrumentale Retuschen, um bestimmte Klangwirkungen einfach nur zu verdeutlichen oder zu verändern. Bei einem Werk wie den ‘Bildern einer Ausstellung’ ist das legitim, es ist ein Teil der Interpretation. Wenn Sie jetzt meine Version von Rachmaninovs 2. Sonate ansprechen, so ist diese im Werk selbst begründet. Es gibt zwei Fassungen von dieser Sonate, eine Originalfassung von 1913, die dem Komponisten selber nicht ganz gelungen erschien. Rachmaninov war ja ein Komponist, der erst einmal Material schrieb und dann dieses Material langsam stutzte, um zu einer Endlösung zu kommen. Das hat er immer wieder gemacht in seinen großen Stücken, und so kam es zu dieser zweiten Fassung von 1931, als Rachmaninov seinen Stil ja schon verändert hatte. Diese Revision hat dem Stück sehr viel genutzt, aber auch geschadet, weil er einen Schritt zu weit gegangen ist, teilweise die pianistische Faktur zu sehr gelichtet und vereinfacht und einige formal doch wichtige Stellen einfach mit der Schere herausoperiert hat, so dass das Endergebnis nicht ganz organisch ist. Daher entschied ich mich für eine Mischfassung. Übrigens hat Jahren hat Horowitz ebenfalls eine solche Mischfassung erstellt und sie sich sogar von Rachmaninov absegnen lassen.
Sehen Sie sich eigentlich als deutscher Pianist oder schon als ein globalisierter?
Ich bin eine ganz interessante Promenadenmischung! Ich bin natürlich in Deutschland geboren und habe meine erste Ausbildung in Deutschland bekommen, ich bin aber schon mit 19 Jahren in den Kontakt der Russischen Schule gekommen, bei Tatjana Nikolajewa, der ich auch später über viele Jahre treu geblieben bin. Als 20-jähriger bin ich nach Amerika gegangen, wo ich sieben Jahre an der ‘Juilliard School’ bei einem in Russland geborenen Lehrer studiert habe. Bei mir kamen so ziemlich alle Einflüsse zusammen, und ich glaube, dass mir das eher genutzt als geschadet hat. Also ich bin mit Sicherheit kein ‘deutscher’ Pianist. Ich bin sogar in meiner ersten Zeit in Deutschland sehr oft angegriffen worden als angeblicher Übervirtuose, weil das Erbe meiner russischen Lehrer in meinem Spiel Spuren hinterlassen hatte. Aber ich bin sehr froh darüber, dass genau diese Art der Auseinandersetzung mit Musik von Liszt, Rachmaninov und Prokofiev mein Beethoven-Spiel beeinflusst und damit, wie ich glaube, auch zu einer Synthese beigetragen hat. Ich wage ja immer wieder die provokante These, dass ein Pianist, der nicht das dritte Klavierkonzert von Rachmaninov spielen kann, auch keinen Beethoven spielen kann und sollte.
Sie sagten, Sie seien an die Juilliard School gegangen. Nun ist das ja eine Schule, an der man erst einmal aufgenommen werden muss. Wie haben Sie diesen Sprung geschafft?
Nun, ich habe eine Tonbandaufnahme mit Beethovens Hammerklaviersonate an den Lehrer meiner Wahl geschickt, Sascha Gorodnitzki, bei dem ich unbedingt studieren wollte, weil er ja Assistent und Meisterschüler von Joseph Lhévinne gewesen war, den ich besonders bewundere. Als dann Gorodnitzki dieses Band hörte – das wurde mir später von Kommilitonen zugetragen – erzählte er allen aufgeregt, dass ihm da ein völlig unbekannter Deutscher die beste Hammerklaviersonate geschickt hätte, die er in seinem ganzen Leben je gehört habe, und so waren mir natürlich sämtliche Türen geöffnet worden.
Das war schon ein bisschen frech, einfach so mit einer Hammerklaviersonate dort anzutreten…
Also ehrlich, ich hatte mir nichts Böses dabei gedacht! Ich hatte bei meinen ersten Amerikabesuch einen telefonischen Kontakt zu Gorodnitzki hergestellt und da er gerade nicht New York weilte, konnte er mich nicht hören, und so bat er mich dann, eine Aufnahme einzureichen, und er sagte, er möchte in jedem Fall auch eine Beethoven-Sonate hören. Da ich damals schon alle 32 Sonaten im Repertoire hatte, fragte ich ihn ganz unschuldig, welche er denn gerne hören möchte. Ich merkte, wie ihm der Atem stockte, bis er mich dann fragte, was genau ich damit meinte. Und dann stand ich natürlich in der Pflicht, nicht unbedingt eine Sonate Opus 49 abzuliefern.
Es gibt ja heute viel mehr Pianisten als früher, weil einfach mehr ausgebildet werden, Pianisten die auch technisch gut spielen, ohne dafür aber unbedingt die besseren Interpreten zu sein.
Das Durchschnittsniveau gerade der Pianisten hat sich in den letzten 50 Jahren geradezu astronomisch nach oben verschoben. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es gerade mal zehn Pianisten auf der Welt, die ein Stück wie die Hammerklaviersonate überhaupt spielen konnten, rein technisch betrachtet, und es gab eben auch zehn Superstars zu dieser Zeit. Zufällig waren es genau die, die die Hammerklaviersonate technisch bewältigen konnten. Heute gibt es vielleicht auch unter all denen Pianisten zehn ganz gute Pianisten, die das Publikum auf der ganzen Welt zu begeistern wissen, es gibt aber zehntausend Pianisten, die ein Stück wie die Hammerklaviersonate zumindest technisch mühelos bewältigen können. An der Spitze, bei den wirklich ernst zu nehmenden Interpreten, hat sich nichts verändert, aber im Mittelbau, da hat sich das Niveau ganz enorm verbessert. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, führt jedoch zu einem Problem: Welches Publikum ist heute noch in der Lage, einen gut ausgebildeten, ordentlichen Pianisten von einem großen Interpreten zu unterscheiden, wenn beide ja doch dieselben Noten auf dem Podium abliefern? Da ist das Urteilsvermögen des Publikums gefragt, und manchmal kommen mir leise Zweifel, ob dieses Urteilsvermögen mit dieser Entwicklung Schritt gehalten hat!
Vielleicht spielt das Visuelle eine zu große Rolle?
Der Unterhaltungswahn, ein Problem der heutigen Zeit! Es gibt tatsächlich eine bestimmte Art von Pianisten, die einen sehr hohen Unterhaltungswert haben, und das ist eine Qualität, die vielleicht keine musikalische ist, aber es ist eine Qualität, die vom so genannten breiten Publikum heute durchaus goutiert wird. Und da schließt sich jetzt ein bisschen der Kreis zu Ihrer ersten Frage. Das ist nämlich genau das Publikum, für das ich nicht arbeite, das ich in der Form nicht erreichen möchte.
Wie funktioniert denn bei Ihnen – ohne Starallüren – die Gratwanderung zwischen Intellekt und Inspiration, die das Publikum dann doch irgendwie fesseln soll und auch muss?
Ich glaube, die beste Charakterisierung des Klavierspielens hat einmal der große Vladimir Horowitz abgegeben, indem er sagte, Klavierspiel sei eine Mischung aus Verstand, Herz und technischen Mitteln: « Ohne Technik sind sie ein Amateur, ohne Herz eine Maschine und ohne Verstand eine Katastrophe ».
Dass Konzerte für jemanden, der so viel spielt wie Sie, wichtig sind, ist normal. Wie wichtig aber sind Tonaufnahmen für Sie?
Ich schätze die Tonaufnahmen als Medium sehr, weil das ja das einzige ist, was unsere interpretatorischen Absichten unverfälscht für die Vergangenheit bewahrt. Der Vorteil der Tonaufzeichnung ist der, dass man an der Idealvorstellung einer Interpretation arbeiten kann, und diese Idealvorstellung ist im Tonstudio von allen Zufälligkeiten befreit. Im Konzert müssen Sie ein Stück als Ganzes darstellen. Wenn Sie aufs Podium gehen und den ersten Ton des Stückes spielen, wissen sie, dass Sie das Stück im Ganzen auffassen und bis zur Schlussnote am Ball bleiben müssen. Wenn sie ins Studio gehen, dann stellt sich die musikalische Herausforderung auf derselben Ebene, nur wissen Sie, dass jeglicher Zufall, der ein Konzerterlebnis trüben könnte, hier nachträglich korrigiert werden kann. Es gibt zwar viele Kollegen, die durch diese Wiederholbarkeit einen Mangel an Inspiration erfahren, für mich ist die Studioaufnahme im Gegenteil eine große Herausforderung, weil ich von vorne herein weiß, dass die sie wirklich ein Abbild der Idealvorstellung sein muss. Und deswegen bin ich dann auch immer in der Lage, im Studio noch mehr aus mir heraus zu nehmen, noch mehr zu riskieren und wirklich nur einen Dialog mit dem Stück und dem Komponisten zu führen, der nicht von äußerlichen Zufällen beeinträchtigt wird. Wenn zufällig im langsamen Satz einer Schubert-Sonate zwanzig Leute mit einer Grippe im Publikum sitzen, dann wissen Sie, wovon ich rede.
Vorhin hatten Sie von den Zufällen in den Konzerten gesprochen. Die Art und Weise, wie Sie spielen, hängt ja von vielen Faktoren ab, und der Saal ist da sicherlich eine wichtige Komponente, genau wie das Publikum und auch das Klavier. Ist es für Sie nicht ein Horror, wenn Sie in einen Saal kommen und nicht wissen, ob das Klavier gut ist, selbst wenn es ein Steinway ist.
Die Frage ist, ob Steinway drin ist, wenn Steinway drauf steht… nein, sagen wir so: Natürlich es gibt immer Zufälle im Leben, was diese Dinge angeht, aber wenn Sie in einem wichtigen, akzeptierten Konzertsaal spielen, können Sie davon ausgehen, dass das Klavier ein bestimmtes Niveau nicht unterschreitet. Aber das Leben steckt voller Überraschungen. Es kann also auch sein, dass man auf einem fürchterlichen Instrument spielen muss. Es gibt Pianisten, die den leichteren Weg angehen und sich weigern auf einem gewissen Instrument zu spielen, aber für mich ist das die ultimative Herausforderung, um zu sehen, wie viel ich als Interpret aushalten kann und wie viel ich auch unter weniger als idealen Voraussetzungen noch für das Publikum und die Musik tun kann.
Steinway ist also auch nicht immer gleich Steinway?
Wir leben in industriellen Zeiten, und die meisten Menschen glauben, dass ein Flügel wie der andere ist, wie bei Autos. Bei Steinway mag das ja noch gehen, es ist die führende Marke, und man kann auch sicher sein, dass ein neuer Steinway ein gewisses Niveau nicht unterschreitet, so wie man bei einem neuen Auto sicher sein kann, das der Motor auch anspringt, wenn man den Schlüssel dreht. Ein Steinway ist aber keine C-Klasse von Mercedes, mit der man mühelos 200.000 Kilometer fahren kann, ohne in die Werkstatt zu müssen. Der Vergleich ist eher mit der Formel Eins zu machen, denn dort fragt man sich auch, wieso nach drei Runden die Reifen gewechselt und die Ventile nachgestellt werden müssen. Flügel werden aus lebendem Material gebaut, und auch wenn eine Firma ein Konstruktionsprinzip hat, so müssen in diesem komplexen Organismus Klavier Holz und Metall zusammen leben und das bedingt die Unterschiede, die es von Klavier zu Klavier auch einer und derselben Marke und Baureihe gibt.
Man sagt ja, dass ein Flügel ohnehin altert, also eingespielt werden muss, was es noch schwieriger macht, zu sagen, wie er sich entwickeln wird.
Man weiß nie so ganz genau, wie das läuft. Es gibt keine festen Parameter. Es gibt wirklich Flügel, die, wenn sie die Fabrik verlassen, als Instrumente schon ihren Höhepunkt erreicht haben, es gibt auch solche Flügel, bei denen noch ein Reifungsprozess stattfindet.
Wenn wir schon vom Klavier sprechen: Sieht man Sie eigentlich auch am Fortepiano?
Ja und nein. Das Fortepiano ist für mich kein Instrument des Konzertpodiums, eher ein Medium der Information. Bei Beethoven beziehen sich einige der Ausführungsvorschriften der Partituren auf das Klavier, das Beethoven benutzte, das eine andere Resonanz, eine andere Tondauer hatte. Daher finden Sie mich eben doch mal an einem Fortepiano, einfach nur um zu überprüfen, welche Wirkung die Vorschriften von Beethoven genau hatten, denn es kann ja nicht darum gehen, die Pedalvorschriften von Beethoven auf einem Steinway D-Flügel einfach eins zu eins umzusetzen, denn das führt zu völlig falschen Ergebnissen. Man muss also sehen, welchen Klang die Vorschrift bewirkt hat, und dann muss man eine eigene Lösung finden, wie man diesen Klang auf einem modernen Steinway erzielt. Allerdings muss ich dazu sagen, dass Beethoven wahrscheinlich gejubelt hätte, hätte er einen modernen Steinway zu Verfügung gehabt, denn er hat sich ja zeitlebens über die miserablen Qualitäten der Instrumente beklagt. Und ich glaube sogar, dass es irgendwo auch pervers ist, wenn man heute diese Instrumente, über die sich Beethoven so beschwert hat, aufs Konzertpodium stellt und behauptet, dass das das Maß aller Dinge wäre…. Also da wehre ich mich energisch!
Die Facetten eines Lebens beinhalten aber nicht nur Musik, was gibt es für Sie neben der Musik?
Auf die Frage, was ich mir als alternative Berufskarriere hätte vorstellen können sage ich gerne: Wäre ich nicht Pianist geworden, dann wäre ich heute Testesser für den ‘Guide Michelin’!
Das heißt, Sie sind irgendwo ein Genießer?
Ich genieße nicht nur die Musik, sondern auch das Essen, gute Getränke. Was gibt es Besseres als einen großen Wein, ein gutes Essen, eine schöne kubanische Zigarre…Wenn wir all das haben und dazu noch Beethoven und Rachmaninov, dann sind wir doch wunschlos glücklich.
Musik ist ja aber letztlich nicht unbedingt nur ein Genuss..
Es ist eine vielschichtige Sache, aber ich möchte den Genuss im Vordergrund belassen. Für den Ausführenden steckt natürlich harte Arbeit dahinter, vieles wovon das Publikum nichts weiß und, wie ich finde, auch nichts wissen muss. Für mich hat Musik letztlich doch auch sehr viel mit Spaß zu tun, und, verstehen Sie mich bitte richtig, auch ein Stück wie der langsame Satz aus Beethovens Hammerklaviersonate kann Spaß machen. Es ist nur die Frage, wie Sie jetzt Spaß definieren. Wenn Sie Spaß im Sinne einer wirklich tiefen inneren Befriedigung verstehen, dann passt das auch auf dieses Stück. Es muss immer darum gehen, im Leben so wie in der Kunst, dass alles seinen Sinn und Zweck hat.
Wovor fürchten Sie sich am meisten?
Den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen.
Worüber freuen Sie sich am meisten?
Richtig verstanden zu werden.
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