Das Klavierfestival in der kleinen südfranzösischen Stadt La Roque d’Anthéron feiert dieses Jahr seinen 35. Geburtstag. Kaum ein Pianist von Rang ist in dieser Zeit nicht auf einer der Bühnen des Festivals aufgetreten, und auch für dieses Jahr hat René Martin, neben vielen Franzosen, Künstler eingeladen wie Boris Berezovsky, Nikolaï Lugansky, Grigory Sokolov, Nicholas Angelich, Nelson Goerner, Arcadi Volodos, Daniil Trifonov, Khatia Buniatishvili und viele andere mehr. Remy Franck hat vier Konzerte auf der Open-Air-Bühne im Schlosspark der unscheinbaren Ortschaft im ‘Pays d’Aix’ besucht.
Eines der Orchester dieser Edition ist die ‘Sinfonia Varsovia’, uns gut bekannt durch Konzerte in Warschau und Schallplattenproduktionen. Beim ersten Konzert in La Roque spielte das Orchester jedoch nicht auf dem gewohnten Niveau: die ungenügende Probenzeit ist dafür wohl eine Ursache, neben dem nicht immer überzeugenden Dirigat des Amerikaners Robert Trevino. Am ersten Abend, einem ganzen Ravel-Programm, zeigte der 32-jährige Dirigent bereits mit ‘Alborado del Gracioso’, dass er für dieses Repertoire vor allem auf Kraft und Lautstärke setzte. So wurde die Komposition zum undifferenziert gestalteten Knallwerk, orchestral vor allem rhythmisch ausgereizt, ohne jede Eleganz und Sensualismus. Auch das letzte Werk, ‘La Valse’, war klanglich schlecht ausbalanciert und bar jeder Eleganz und Geschmeidigkeit, völlig atypisch, also ‘unfranzösisch’. Das war nicht der Edelstoff, aus dem die Musik des genialen Orchestrators Ravel besteht, sondern billigstes Polyester.
In diesem orchestralen Kontext hatte es der Solist des Abends, der hervorragende französische Pianist Vincent Larderet, nicht eben leicht. Gottseidank zeigte sich Trevino flexibel genug, um Larderet in seinem interpretatorischen Konzept weitgehend zu folgen, auch wenn er ihn immer wieder mit seinem in voller Lautstärke aufspielenden Orchester zudeckte. Das G-Dur-Konzert erlitt das gleiche Schicksal. Glücklicherweise hatte Vincent Larderets Spiel genügend Potenzial, um den Abend nicht zum Desaster werden zu lassen.
Was mich an dem Musizieren dieses Pianisten immer wieder fasziniert, ist die extreme Klarheit seines Spiels, in dem jede Note den ihr zustehenden Wert erhält. Bereits im fast martialisch formulierten Beginn des Konzerts für die linke Hand nahm Larderet sehr für sich ein. Sein sehr sonorer Klavierklang war aber auch voller farblicher und dynamischer Nuancen, was bei relativ gemäßigtem Tempo eine gesunde Spannung erzeugte. Auch im C-Dur-Konzert waren strukturelle Klarheit und Klangtransparenz sowie eine phänomenale Farbpalette Atouts, mit denen Larderet seinen Rang als Ravel-Interpret beeindruckend unter Beweis stellte.
Glücklicherweise war der zweite Abend, was das Orchester anbelangt, von viel besserer Qualität als der erste. Solist war der 20-jährige Jan Lisiecki. Das erste Mal, als ich Jan Lisiecki live hörte – das war im Jahr 2009 – war ich bestürzt über das technische und interpretatorische Niveau des jungen Kanadiers mit polnischen Wurzeln. Bei seinen vier bzw. fünf Jahre später entstandenen CD-Aufnahmen für DG stellte ich fest, dass sich sein spieltechnisches Niveau doch sehr verbessert hatte, doch an Ausdruckskraft fehlte es immer noch sehr. Lisieckis Mozart- und Chopin-Interpretationen waren Fleißarbeit, recht beliebig und austauschbar. In La Roque d’Anthéron konnte er mich interpretatorisch zum ersten Mal beeindrucken.
Er trat er mit einem umfassenden Schumann-Programm an, spielte neben dem Klavierkonzert op. 54 auch Introduktion und Allegro appassionato op. 92 sowie Introduktion und Allegro op. 134. Zusammen mit dem hier besser zurecht kommenden Dirigenten Robert Trevino gelang ihm ein dynamisch gut abgesetzter, flüssiger und transparenter Schumann.
Die Musik war strukturell und klanglich gut ausbalanciert, ohne Exzesse, mit, im Klavierpart, einer guten Mischung aus Virtuosität und Poesie, wobei auch das Reflektive nicht zu kurz kam, vielleicht sogar etwas überbetont wurde. Die Sinfonia Varsovia überzeugte mit einem seidigen Streicherklang, in dem vor allem die wunderbare Cellogruppe auffiel. Die Blechbläser wirkten aber auch am zweiten Abend noch etwas ungeschliffen.
Trevino dirigierte abschließend die Erste Symphonie, die Frühlingssymphonie. Der erste Satz geriet wohl etwas harsch, rabiat und monochrom, aber die drei folgenden Sätze konnten durchwegs überzeugen. Atmosphärisch wie auch spieltechnisch war das guter Schumann! Mit einem schwungvollen und sehr gut elaborierten Fünften Ungarischen Tanz von Johannes Brahms bedankten sich Trevino und das Orchester beim Publikum für den starken Applaus.
Das erste der beiden Recitals, die ich in La Roque d’Anthéron hören konnte, wurde vom jungen Franzosen Gaspard Dehaene gespielt, der uns jüngst als Begleiter von Adrien Boisseau auf einer Schumann-CD bei Oehms Classics so sehr begeistert hatte.
Der Klavierabend begann mit Johann Sebastian Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge BWV 903, und Dehaene gelang eine hoch expressive Interpretation dieses Werks, das zu den persönlichsten des Komponisten gehört. Mozarts d-Moll Fantasie KV 397 wurde eine Spur zu demonstrativ und vorhersehbar gespielt, so wie auch die Bach-Fantasie – bei aller Expressivität – schon etwas zu ‘vorbereitet’ und zu wenig spontan war.
Viel freier wirkte der Pianist (er ist der Sohn von Anne Queffélec) in Chopins Fantasie-Impromptu op. 66 und in Robert Schumanns Fantasie op. 17, in der er sich gefühlsmäßig sehr investierte, ohne freilich den Grad an ‘Loslassen’ und Persönlichkeit zu erreichen, den ich mir erwartet hatte. Dennoch: das ‘Fantastische’ sowie die Poesie des Stücks waren vorhanden und rechtfertigten den kräftigen Applaus des Publikums, das sich zwei Zugaben erklatschte.
Einen ganz besonderen Charakter hatte der Klavierabend mit Frank Braley. Der Franzose beschäftigte sich mit Rag und Jazz in Werken von Gershwin (Rhapsody in blue, 3 Preludes) Joplin, Stravinsky, Ravel, Debussy, Bolcom und Schulhoff. Braley war im ganzen Programm bewundernswert souverän, und sein ‘losgelassenes’ Spiel begeisterte durch seine Nuancen und sein Raffinement, die nie auf Kosten der Rhythmik gingen. In den anspruchsvolleren Werken wie William Bolcoms ‘Dream Shadows’ und Erwin Schulhoffs ‘Fünf Jazz Etüden’ zeigte er viel Gestaltungsphantasie, während Stravinskys ‘Piano Rag Music’ mit kräftigen Akzenten ihre skurrile Modernität offenbarte. Große Kunst, von einem großartigen Künstler!
Das Publikum, das die Arena von La Roque d’Anthéron mit ihren 2000 Plätzen fast füllte, reagierte begeistert. Für mich war dieses Konzert das mit Abstand beste während meines kurzen Besuchs beim Klavierfestival, weil hier alles zusammentraf, was wirkliche Musik ausmacht: technische Überlegenheit, absolute stilistische Sicherheit, eine genuin aus Erfahrung und Liebe zu den Werken zustande kommende Empfindungskraft sowie ein völlig natürlich wirkendes Musizieren, das nie den Interpreten in den Vordergrund spielte.