Als der am 1. Januar 2016 verstorbene Gilbert Kaplan 1987 mit dem ‘London Symphony Orchestra’ Mahlers Zweite Symphonie aufnahm, wurde die Produktion als ‘Record of the Year’ gefeiert und weltweit von der Kritik sehr positiv besprochen. 16 Jahre später legte der Finanzfachmann, der das Dirigieren von Mahlers Auferstehungssymphonie zu seinem Hobby machte und damit zum unumstrittenen Spezialisten dieser Komposition avancierte, eine Neueinspielung mit den Wiener Philharmonikern vor, jenem Orchester, mit dem er das wohl beste Resultat, die genaueste Umsetzung seiner Auffassungen realisieren konnte.
Kaplan (der die Symphonie 1993 in Luxemburg dirigierte) hatte zuvor zusammen mit Renate Stark-Voit und unter den Auspizien der ‘Kaplan Foundation’ eine neue kritische Ausgabe der Partitur angefertigt, und diese wurde für die vorliegende Produktion zum ersten Mal benutzt. Spektakuläre Revidierungen gab es wohl nicht, aber im Grossen und Ganzen merkt man die Korrekturen schon. Sie ergeben, aufs Ganze gesehen, ein kohärenteres Musikbild.
Kaplan hat aber nicht nur Fehler ausgemerzt, er hat auch an seiner eigenen Werksicht gearbeitet. Er ist erheblich langsamer geworden als 1987, er bringt mehr Transparenz zustande und nutzt vor allem die instrumentale Wärme der phänomenal spielenden Wiener Philharmoniker sowie die unvergleichliche Akustik des Wiener Musikvereins aus, um zu einer wirklich stupenden Interpretation zu gelangen.
Aus profunder Werkkenntnis, mit viel Respekt für die Intentionen des Komponisten wird Kaplan hier zum Testamentsvollstrecker Gustav Mahlers. Er identifiziert sich wohl in einem Maße mit Mahler, wie es kein anderer Dirigent tun würde. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass er Mahlers Gefühlswelt anders darlegt als die meisten anderen Dirigenten. Nicht mit kräftigen Akzenten, nicht mit der Gewalt des Ausdrucks fesselt er uns, sondern mit einer Gefühlswelt, die von ganz woanders kommt, mit jener Tiefe der Musik, die Mahler selbst in seinem Werk für einmalig hielt, mit jener geistigen Dimension, von der er sagte, er habe sie in keinem anderen Werk mehr erreicht. Diese Aussagen mögen die ‘Guideline’ für Kaplan gewesen sein, und durch diese Ernsthaftigkeit, durch diese Größe, die jedes Spektakuläre hinter das zutiefst menschliche Empfinden stellt, gelangt Kaplan zu einer über alle Maße ergreifenden und erhebenden Interpretation. Da wird man als Hörer von der Musik umklammert, spürt, wie einem der Atem stockt, wie einem der kalte Schauer den Rücken hinunter läuft, wie sich an Armen und Beinen Hühnerhaut bildet, weil in dieser Interpretation nicht nur die Musik die Wirkung erzeugt, sondern vor allem und in erster Linie das, was hinter der Musik liegt, jene geheimnisvollen Kräfte, die menschliche Emotionen erzeugen können, die außer unserer Kontrolle liegen und uns geläutert aus dem Werk entlassen. Danke, Gilbert Kaplan, für diese Gnade!