Herr Pochekin, erzählen Sie mir etwas über die Geschichte dieses Projekts?
Ein Jahr zuvor hatten Valentin Uryupin und ich zusammen mit dem Russischen Nationalorchester die ‘In Spe’-Sinfonie von Vyacheslav Artyomov mit Solovioline und Cello für das Label Divine Art aufgenommen. Die Zusammenarbeit lief so gut, also beschloss ich, mit dem gleichen Team weiter zu machen. Meiner Meinung nach ist das RNO einfach vorbildlich in der Aufführung russischer Musik. (Pizzicato-Rezension)
Was sind die besonderen Qualitäten dieses Orchesters und ihres Dirigenten?
Uryupin ist einer der besten Dirigenten seiner Generation. Vor allem ist er ein Vollprofi, wenn es um die Arbeit im Studio geht. Meiner Meinung nach sind nur wenige Leute wirklich gut darin.
Welchen Herausforderungen mussten Sie sich bei dieser Musik stellen?
Dmitri Shostakovichs Musik ist höhere Mathematik, die zugleich die Impulse und Leiden einer menschlichen Seele durch Klänge vermittelt. Keine Komponente geht hier ohne die andere: Ohne Shostakowichs ‘Wissenschaft’ im Umgang mit Tönen zu kennen, wird man den tiefen Seelenregungen in der Musik nicht gerecht.
Was haben Sie gefühlt, als Sie das Spiel von David Oistrach hörten?
Oistrachs Version entstand unter Mitwirkung des Komponisten selbst. Daher betrachte ich sie als Originalquelle, auf die sich alles bezieht.
Ist es schwierig, nach dem Anhören dieser Quelle zu einer eigenen Stimme zu finden?
Es ist nicht schwierig. David Oistrachs Interpretation liegt mir nahe und ich führe sie in vielerlei Hinsicht fort.Aber Shostakovich hat nicht nur Oistrachs Aufführung seiner Konzerte, sondern auch die Interpretationen anderer Geiger persönlich zur Kenntnis genommen. Das allein ist Beleg für einen interpretatorischen Freiraum, den ich auch heute als großes Potenzial für zeitgenössische Interpretationen dieser Violinkonzerte sehe.
Was machen Sie heute anders? Was ist notwendig, um eine Komposition aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jetzt im 21. Jahrhundert und in der Zukunft aufzuführen?
In der Musik, ebenso wie im reale Leben, entwickelt sich alles wie in einer Spirale. Aber das Tempo des Lebens ändert sich. Wir leben und denken heute viel dynamischer als im 20. Jahrhundert. Aber Shostakowich ist schon lange ein Klassiker. Also ist und bleibt er immer relevant.
Erzählen Sie mir etwas über Ihre Gefühle zu dieser Musik!
Seit meiner Kindheit habe ich viel von Shostakovichs Musik gehört – seine Symphonien, Quartette und natürlich seine Instrumentalkonzerte, nicht nur die Violinkonzerte. Für mich ist seine Musik sehr nah und persönlich und sehr russisch, obwohl sich Shostakowich auch sehr bewusst von Komponisten aus anderen Kulturen beeinflussen ließ.
Würden Sie denken, dass Sie als russischer Musiker naturgemäß die Musik von Shostakovich anders spielen als alle anderen?
In dieser Hinsicht sind Uryupin und ich sozusagen musikalische Enkel von Shostakovich. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen den Generationen und es lebt eine Kontinuität in der Aufführung von Musikern derselben Schule.
Wenn man beim Hören dieser Konzerte Shostakovichs biographische Umstände in Betracht zieht, in welcher Weise appelliert diese Musik Ihrer Meinung nach an die Freiheit in der Gegenwart und in der Zukunft?
Freiheit existiert außerhalb der Zeit, ebenso wie die Sklaverei. In Russland sind diese beiden Phänomene historisch relevant und von der Gesellschaft schmerzhaft empfunden worden.
Kennen Sie Beispiele, wo Dmitri Shostakovich über das zweite Violinkonzert gesprochen hat?
Es gibt ein aufgezeichnetes Telefongespräch zwischen Oistrach und Shostakowich, in dem der Komponist sehr genau erklärt, wie bestimmte Teile der Konzerte in Bezug auf Charakter, Tempo und Agogik ausgeführt werden sollten.
Was sind die Qualitäten der speziellen Russischen Schule und was haben Sie darüber hinaus beim Studium und Musizieren in westlichen Ländern gelernt?
Die Russische Schule ist in technischer Hinsicht sehr grundlegend, vielleicht so ähnlich wie im Sport. Von den Darstellern wird schon in sehr frühem Alter ein hohes Maß an Können und Virtuosität verlangt. In Deutschland ging es mehr um die persönliche Interpretation. Also konnte ich mir hier vor allem stilistische Kenntnisse aneignen und habe mein Kammermusikrepertoire erweitert. Beide Systeme ergänzen einander. Dem entspricht die Tatsache, dass viele Professoren aus der ehemaligen UdSSR heute in Europa lehren.
Ihr Vater war ein berühmter Geigenbauer. Erzählen Sie mir etwas über ihn. Wie und wann haben Sie sich in die Geige verliebt?
Mein Vater hat meinen Bruder und mich seit meiner Kindheit unterstützt. Er hat kleine Instrumente für uns gebaut, die großartig klangen. Das hat uns beiden den Weg zu einer kreativen Reise schon ganz früh eröffnet.
Welche Art von Geige spielen Sie und was ist das Besondere daran?
Seit fünf Jahren spiele ich die Geige von Tomaso Eberle aus dem Jahr 1775 und ich habe mich sehr an dieses Instrument gewöhnt.
Was haben Sie durch die enge und lange Zusammenarbeit mit Mikhail über Musik im Allgemeinen gelernt?
Seit meiner Kindheit teilen Mikhail und ich einen gemeinsamen musikalischen Raum. Und das erlaubt uns, mit großer Qualität an den Details zu arbeiten.