1976 hat Herbert Blomstedt als erster Dirigent die Urfassung von Beethovens Fidelio, die Oper Leonore, mit der Staatskapelle Dresden, dem Rundfunkchor Leipzig, Edda Moser, Richard Cassily, Theo Adam, Helen Donath und Karl Ridderbusch aufgenommen. Dass die nicht auf historischem Instrumentarium gemachte Einspielung heute noch großartig wirkt, davon konnten wir uns rezent bei der Veröffentlichung der Naxos-Beethoven-Complete Edition überzeugen.
John Eliot Gardiner hat 1997 bei DG/Archiv Produktion mit dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique die erste historisch informierte Produktion von Leonore dirigiert. Doch es war dies keine Interpretation anhand des Autographs, denn Gardiner beschränkte sich nicht auf die Ur-Leonore von 1805, sondern berücksichtigte auch Änderungen des Komponisten sowohl aus dem Jahre 1806 als auch aus dem Jahre 1814. Seine Aufnahme ist also das Bild eines Work in Progress, wie es der Dirigent damals selber bezeichnete. Auch was die Dialoge anbelangt, ging Gardiner seinen eigenen, sehr eigenwilligen Weg, weil er sie durch den Kommentar eines Erzählers ersetzte. Dieser Erzähler, Christoph Bantzer, dramatisiert den Text so entsetzlich, dass aus dem Kommentar ein theatralischer Monolog wird. Das stimmliche Aufgebot der Gardiner-Aufnahme hält sich ebenfalls in Grenzen, so dass lediglich die musikalische Konzeption und die Leistungen von Chor und Orchester begeistern.
Und nun ist also René Jacobs angetreten, um aufgrund des Autographs die erste historisch informierte Version von Beethovens einziger Oper zu präsentieren.
Doch gleichzeitig nahm er sich die Freiheit, die Dialoge selber neu zu schreiben. Und schoss sich dabei selber ins gestellte Bein. Überlang sind sie geworden, barock verziert und modern verbrämt, denn es kommen immerhin etliche Worte darin vor, die es 1805 noch nicht gab. Wie steht’s da mit der Authentizität?
Doch damit nicht genug: ein Eingriff in die Partitur wie der, dass Marzelline den Schluss von Roccos Arie ‘Das Gold’ zusammen mit dem Vater singt, mag ein netter Einfall sein, aber bezüglich der viel beschworenen Authentizität ist es mehr als fragwürdig.
Dennoch wäre es vermessen, diesen Einschränkungen angesichts von Jacobs’ Dirigat eine zu große Bedeutung beizumessen.
Stärker noch als Gardiner wirft Jacobs jegliches Pathos über Bord und benutzt durchgehend relativ zügige Tempi. Wie Gardiner möbelt er den ersten Akt auf und nimmt dem zweiten seine Wucht, so dass ‘Mozartisches’ modernisiert, Romantisches ‘gemildert’ und eine musikalische Einheit geschaffen wird, die im finalen Fidelio eine der Hauptschwierigkeiten für Interpreten und Rezipienten darstellt.
Während Gardiner jedoch dem Orchester eine wesentliche Rolle einräumt und es zum Hauptakteur der Oper macht, indem er weniger persönlichkeitsstarke Sänger engagiert, die sich bestens in sein Konzept einfügen, ist dies bei Jacobs nicht der Fall.
Natürlich ist auch das Spiel des Freiburger Barockorchesters ein Plus der Jacobs-Aufnahme. Leichtigkeit und Plastizität sowie ein hohes spieltechnisches Niveau sind schon faszinierend. Jacobs entlockt dem Orchester einen warmen Klang, der von mitreißender Kraft ist. Das ist spannungsvolles, hochvitales, ebenso virtuoses wie raffiniertes Musizieren, wie man es sich besser und beglückender gar nicht vorstellen kann.
Für die Rolle des Fidelio/Leonore hat Jacobs Marlis Petersen engagiert. Wenn man ihre Leistung mit jene von Edda Moser vergleicht, verblasst Petersen. Sie singt einen sehr weiblichen Fidelio, mit einer hellen und flexiblen Stimme, der nicht jedem in dieser Rolle gefallen wird.
Maximilian Schmitt ist als Florestan alles andere als der Heldentenor, wie wir ihn aus der Endfassung Fidelio kennen. Er singt mit einem hellen, ganz leicht säuerlichen lyrischen Tenor, eher introvertiert und geschwächt, wie eben ein Gefangener, der zwei Jahre im Gefängnis liegt. Robin Johannsen ist eine ausgezeichnete, sehr charmante und sängerisch gute Marzelline. Der Jacquino wird von Johannes Chum überzeugend interpretiert.
Mit seiner runden und sonoren Stimme ist der russische Bass Dimitry Ivashchenko eine gute Besetzung für den Ober-Opportunisten Rocco.
Die Stimme von Johannes Weisser als Don Pizzarro ist problematischer. Weisser klingt etwas jung und kann den Charakter des Bösewichts nur bedingt erfüllen.
Mit seiner sicher geführten, kräftigen Stimme gibt Tareq Nazmi in der Rolle des Ministers Don Fernando eine gute Figur ab.
Gardiner hatte zu seiner Version der Leonore notiert, seines Erachtens sei Leonore einem Selbstverständnis entsprungen, das im Angesicht der Furcht nach dem Idealen strebe. Fidelio sei im Gegensatz dazu Beethovens gefestigtere Antwort auf Tyrannei und Ungerechtigkeit. Das trifft auf seine Interpretation vollauf zu, weil der Musik, wie ich 1997 beim Erscheinen der Aufnahme schrieb, ihr eminenter Charakter als Mahnwerk gegen Terror und Despotismus genommen wird. Das ist bei Jacobs nicht der Fall. Er hat die Tatsache, dass die gestraffte Fidelio-Fassung prägnanter ist, durch eine gleichermaßen homogenisierende wie dramatisierende Interpretation umgangen, die in ihrer übergeordneten gedanklichen Bedeutung gegenüber Fidelio nicht auf Vordergründigkeit zurückgestuft wird, wie das bei Gardiner der Fall ist.
Dennoch kann Leonore kein Ersatz für Fidelio sein, sondern nur ein komplementäres Zusatzprodukt.