Mit der folgenden Rede eröffnete der 74-jährige Politiker und Musiker José Antonio Abreu am gestrigen Freitag die Salzburger Festspiele. Er geht darin auf die Entwicklung des von ihm gegründeten Netzwerks ‘El Sistema’ ein, auf die Besonderheiten des lateinamerikanischen Kulturlebens. Edr untersucht die Rolle der Musik in Bezug auf den Begriff Scvhönheit und stellt die Wichtiugkeit der Schönheit als solche heraus: «Die Trias von Schönheit, Wahrheit und Güte beschreibt den ästhetischen Zustand des individuellen und kollektiven Menschen – und verkündet gleichzeitig die ästhetische Dimension des Lebens selbst.» Hier die Rede im Wortlaut:
Zum Anlass der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2013 möchte ich im Namen aller Künstler und Musiklehrenden sprechen, die mich in den letzten 40 Jahren voller Vertrauen und Hingabe begleitet haben. Die hohen Ideale, die sie geleitet haben, sind mit dem Schicksal der Kinder und Jugendlichen Lateinamerikas verbunden. Für die jüngeren Generationen erfüllt die Kunst heute mehr denn je eine Aufgabe, die über die rein schöngeistigen Werte hinausgeht. Sie umfasst immer deutlicher andere zentrale Lebensbereiche: angefangen bei der ganzheitlichen humanistischen Bildung der Persönlichkeit bis hin zu einer künstlerisch geförderten gesellschaftlichen Integration von Kindern und Jugendlichen. Die neue musikalische Generation in Lateinamerika demonstriert, wie ein ganzer Kontinent mit seinen Orchestern sowie Jugend- und Kinderchören ein zukunftsträchtiges Modell gefunden hat.
Die Organisation Amerikanischer Staaten hielt in einer Erklärung vom März 1995 nur diejenige Entwicklung für vorstellbar und nachhaltig, die in Einklang mit den Werten einer bestimmten Kultur und Gesellschaft steht. Demokratie, heißt es weiter, sei nicht als schmückendes Beiwerk einer Kultur zu begreifen, sondern als deren Essenz.
Gerade die Kunst stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, unsere kulturellen Eigenheiten zu gestalten, um so die historischen Wurzeln unserer Identität zu ergründen und zukünftige Ziele auszuloten. Insbesondere die lateinamerikanisch-karibische Kultur erscheint homogener und singulärer als die anderer Kontinente und Regionen. Hierin besteht die größte Leistung unserer Künstler und Kulturschaffenden: das, was unsere Originalität ausmacht, zu ergründen und neue Wege zu eröffnen. Die Intellektuellen und Künstler des Kontinents, denen die Reichweite der kulturellen Arbeit bewusst ist, setzen sich heutzutage in beispielloser Weise für eine kulturelle Integration ein. Die Rolle, die ihnen in der lateinamerikanischen Erfolgsgeschichte zukommt, ist evident.
Lateinamerikas kulturelle Blüte fußt auf seiner Fähigkeit, „neue Welten » zu erschaffen. Die Welt neu zu erfinden, ist ein Bedürfnis des Menschen seit seinen Ursprüngen. Unsere präkolumbianischen Vorfahren sahen das Universum als ständig im Wandel begriffen. Das geht bereits aus den Mythen der Maya hervor. Doch auch unsere modernen Schriftsteller wie Miguel Ángel Asturias, Gabriel García Márquez, Jorge Luis Borges und Arturo Uslar Pietri betrachten Amerika als eine sich ständig verändernde Welt. So ist es die Geschichte des Kontinents, aber auch das Wirken seiner Schöpfer, das Amerika dazu gebracht hat, stets nach neuen Horizonten zu suchen.
Jahrhundertelang, im Grunde seitdem es seinen Namen trägt, ist Amerika einem kulturellen und machtpolitischen Missverständnis zum Opfer gefallen. So schwer verständlich es ist, dass die Europäer für so lange Zeit das Wesen Amerikas nicht begreifen konnten, umso unverständlicher erscheint es, dass wir selbst nach der fünfhundertjährigen Begegnung von Kulturen und Kontinenten nicht fähig gewesen sind, uns selbst klar zu betrachten – was wir wirklich sind, gewesen sind, sein sollten. Der Wille, uns selbst zu definieren, verhilft uns in dieser Stunde zum Bewusstsein unseres gemeinsamen Schicksals und veranlasst uns, unsere Identität zu gestalten, deren höchster Ausdruck sich in der Kunst manifestiert.
So unzeitgemäß und widersprüchlich es erscheinen mag, so müssen wir doch, wenn wir in diesem Kontext von der Kunst als Universum und Auftrag sprechen, auch über die Schönheit nachdenken.
Der Begriff von Schönheit lässt sich, objektiv betrachtet, auf bestimmte künstlerische Eigenschaften und Werte anwenden. Doch die persönliche Erfahrung von Schönheit ist etwas Unaussprechliches: eine Ahnung von der Erfüllung durch die Liebe im Akt der Kontemplation. Beim Betrachten von Schönheit als Eingebung und Ekstase, strebt der Geist nach dem Werk und verwandelt es unaufhörlich, aus den Tiefen des Unbewussten und bis zu den Grenzen der Vernunft. Wobei die einzige Beschränkung der spezifisch menschliche Anspruch am ästhetischen Urteil darstellt, das geistige Gut einer jeden Person. Das Kunstwerk kann Emotionen und eine Ahnung von Erfüllung hervorrufen, sogar bei Tieren, wie etwa im Mythos des Orpheus, und auch bei Kleinkindern, die eine intensive, rätselhafte Eingebung erleben. Als könnte die Kunst, die vom Endlichen ausgeht, uns bis an die Schwelle des Unendlichen bringen. Im Menschen ist zweifellos ein Trieb angelegt, sich mit großer und geheimer Leidenschaft dem Allerhöchsten, Einzelnen und Unteilbaren zuzuwenden. Dessen göttliche Essenz fließt auf wunderbare Weise in Wahrheit, Güte und Schönheit über. Schönheit ist leuchtende Wahrheit, unendliche Güte und höchste Liebe. Schön ist die Erhabenheit des Parthenons sowie die Einfachheit; schön ist die Nike von Samothrake sowie der Frieden für die Gerechtigkeit; schön ist die Freude sowie die Freiheit, die zum Guten führt: schön ist der Moses von Michelangelo sowie das Leben der Heiligen Teresa von Kalkutta. Die bildende Kunst verkörpert die Schönheit von Gegenständen im Raum: Die Musik dagegen ist Schönheit, die zeitlich verläuft, und eine Quelle des Unsichtbaren, das so wie Gottes Gnade in die Ewigkeit führt.
Wenn die Erziehung die Entfaltung der menschlichen Individualität und ihre soziale Harmonisierung anstrebt, kommt in diesem Prozess der ästhetischen Bildung eine zentrale Rolle zu. Es ist ihre Aufgabe, einerseits die ursprüngliche Intensität aller Gefühle und Wahrnehmungen zu bewahren, und andrerseits deren Verbindung untereinander und zur Außenwelt aufrecht zu erhalten. Gefühle sollen eine passende Ausdrucksform finden, damit auch all jene geistigen Erfahrungen verständlich gemacht werden können, die sonst ganz oder teilweise unbemerkt blieben.
Die Trias von Schönheit, Wahrheit und Güte beschreibt den ästhetischen Zustand des individuellen und kollektiven Menschen – und verkündet gleichzeitig die ästhetische Dimension des Lebens selbst. Wenn, wie wissenschaftlich bewiesen, Kinder dank eines angeborenen ästhetischen Sinns ihre Erfahrungen ordnen lernen, sollte die Erziehung diesen Sinn nachdrücklich pflegen. Bereits für Plato waren die Harmonie des Lebens und sogar die moralische Veranlagung von einem ästhetischen Sinn für Rhythmus und Wohlklang bestimmt. Beide dringen tief in die Seele ein, bemächtigen sich ihrer, und schenken dem Menschen Grazie, Besonnenheit und Würde. Dies jedoch nur, wenn die Erziehung den Weg dafür bereitet hat. Plato ist Shakespeares Erkenntnis zuvorgekommen:
„Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken;
die Regung seines Sinns ist dumpf wie Nacht,
sein Trachten düster wie der Erebus.
Trau keinem solchen! – Horch auf die Musik! »
Émile Jaques-Dalcroze hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Elemente, die den Rhythmus ausmachen, der Raum und die Zeit, nicht voneinander zu trennen sind. Das gilt in der Musik wie auch in einer als Kunstform verstandenen menschlichen Existenz. In der künstlerischen Erziehung hängt deswegen das beste Ergebnis weder vom Lehrsystem noch von der fachlichen Fähigkeit des Dozenten ab, sondern vor allem von der Schaffung einer Atmosphäre der Freiheit und echten Zuneigung. Hier kann das Ideal der „schönen Seele » entstehen, die sinnlichen Instinkt und moralisches Bewusstsein verbindet.
Die moderne Akustik hat bewiesen, dass der Mensch im Moment, wo er Klänge wahrnimmt, seine Sprach- und Kommunikationsfähigkeit entwickelt. Die Schallwelle und ihre Vibrationen erzeugen unzählige Verbindungen, die sich je nach Klangfunktion, natürlicher Harmonie und auch dem Medium unterscheiden, durch das die Schallwelle dringt, seien es Wasser, Pflanzen, Tiere oder Menschen. Die neuesten Erkenntnisse der Musiktherapie haben dank Vorreitern wie Herbert Read, Alfred Tomatis und Don Campbell erwiesen, dass Kinder, die im Mutterleib Bach, Mozart oder Vivaldi hören, bereits vor der Geburt das große dem Menschen eigene ästhetische Potential entwickeln. Von der frühesten Kindheit an wird das Kind spüren, wie sich in ihm die Magie des Klanges entfaltet. Und nach der Geburt, noch bevor die Kinder rational zu begreifen beginnen, entwickeln sie durch die musikalische Erziehung fast unbewusst einen Sinn für den Rhythmus, für den Wohlklang, der auf dem Kontrapunkt zwischen Klängen untereinander sowie zwischen Klängen und der Stille beruht. Von da an ist es die Aufgabe des Erziehungswesens, allmählich aber nachdrücklich die Urteilskraft des Kindes zu entwickeln und zu verfeinern, damit es auf immer tiefere und komplexere Weise das ästhetische Phänomen begreift, entsprechend seiner kognitiven Fähigkeiten und seiner Gemütsverfassung. Kinder, die einer künstlerischen Berufung folgen und ein Instrument spielen oder in einem Chor singen, werden in der eigenen Person die Verwirklichung zutiefst menschlicher Eigenschaften erfahren. Das geschieht dank jener erhabenen Musik, die als göttliche Botschafterin ihren Geist verwandelt und sie zu Künstlern macht. Und sollte ein Kind den Weg der Musik nicht beschreiten, so darf es vom Bildungssystem eine ästhetische Erziehung erwarten, die ihm eine innere Reifung garantiert. Wahrscheinlich steht es den religiösen Institutionen zu, eine vollendete Integration des Menschen zu verwirklichen, gemäß einem höheren spirituellen und transzendenten Prinzip, um ein sinnreiches, durch Liebe und edelmütiges Engagement geprägtes Leben zu führen.
Von einer anderen Warte aus gesehen wird Kunst, die Wiege der intuitiven Erkenntnis, vor allem als Ausdruck, insbesondere als sprachlicher Ausdruck, betrachtet. Für Gadamer verewigt sich das Kunstwerk in der Eloquenz, das heißt im sinnerfüllten Wort, und bei Benedetto Croce bilden Linguistik und Ästhetik eine unteilbare Dimension. Schiller sah in der Schönheit ein Vorbild für den zwischenmenschlichen Umgang, das gemeinsame Kulturerbe par exellence. Heute, da man mehr denn je den Dialog sucht, muss unsere Gesellschaft unbedingt eine passende Sprache finden, die Versöhnung ermöglicht und bewahrt. Ästhetik und Linguistik haben gemeinsame Grundlagen; daraus folgt, dass die Sprache der Demokratie den Anspruch erheben muss, vornehmlich eine ästhetische Sprache zu sein.
Die Demokratisierung eines Bildungssystems, das allen Kindern Zugang zu Literatur und Kunst, zur Philosophie und zum gemeinschaftlichen Leben gewährt, ist unabdingbar, um die zivile Gesellschaft und den Staat tiefgehend zu erneuern. Als Musiker und Künstler möchte ich vorschlagen, dass die Salzburger Festspiele in solidarischer Zusammenarbeit mit der UNESCO das weltweite „Pädagogische Projekt » vorantreiben. Für die intellektuelle und künstlerische Welt stellt dies eine große Herausforderung dar, jedoch eint sie das Ideal, allen Kindern und Jugendlichen eine künstlerische und ästhetische Erziehung ermöglichen zu wollen. Und diese können dank ihrer eigenen schöpferischen Kraft bereits heute im Unterricht und später auch davon unabhängig ihr Leben als ein Kunstwerk entwerfen, das sich ständig wandelt und durch die Ideale der Gerechtigkeit, des Friedens und der Hoffnung erleuchtet wird.
Mozarts Kunst muss heute mehr denn je Kinder und Jugendliche zu einer neuen Gesellschaft inspirieren, die wir uns wie ein wundervolles und strahlendes Orchester vorstellen und wie ein solches entwerfen und aufbauen müssen. Vor diesem Hintergrund ist für das weltweit agierende ‚Sistema‘ der Jugend- und Kinderorchester von Venezuela nicht die künstlerische Ebene vorrangig. Vielmehr zählen der globale Kontext sowie die zukunftsträchtige Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen in soziales Engagement und Integration, Förderung und Entfaltung durch die Kunst.
Chor und Orchester bilden eine Gemeinschaft, die sich ständig aufeinander abstimmt: Mehr noch als eine künstlerische Einrichtung sind sie ein Vorbild, ein Spiegel und eine unübertreffliche Schule des gesellschaftlichen Lebens. Das gilt insbesondere für die Jugend- und Kinderorchester. Gemeinsam mit Freude und im Streben nach Vollkommenheit Musik zu machen bedeutet für Kinder und Jugendliche eine strikte Disziplin einzuhalten und dadurch den Einklang und die harmonischen Wechselwirkungen zwischen den einzeln Abschnitten, Stimmen und Instrumenten gemeinsam zu erleben. Es ist kaum vorstellbar, dass ihre Arbeit nicht von vitaler Entdeckungslust, von dem Verständnis und der Beherrschung der Musik, von der vollkommenen Hingabe an das Werk getragen würde. Mit Herz und Seele, aber auch mit Maß und intellektueller Strenge, setzen sie sich ganz von selbst für den richtigen Takt und den Rhythmus des Klangs ein. So erreichen die Symphoniker und die Vokalisten jenes sublime und komplexe Gleichgewicht von Werten, das in seiner Vielfalt, Dynamik und Subtilität die konzeptuelle, emotionale und soziale Kommunikation des Klangdiskurses ausmacht.
All dies macht diese Art von Orchestern und Chören zum idealen Instrument, um Kinder und Jugendliche in ein gemeinschaftliches und solidarisches Leben einzuführen, das ihre Persönlichkeit herausbildet. Je nach ihren persönlichen technischen oder künstlerischen Begabungen fördern die Aktivitäten von Orchestern und Chören bei Kindern und Jugendlichen einen solidarischen Gemeinschaftssinn. Sie erhöhen zudem ihr Selbstwertgefühl und festigen ethische und ästhetischer Werte, die die Beschäftigung mit Musik mit sich bringt. Eine aktuelle Studie, die die soziale Bedeutung des venezolanischen ‚Sistema‘ der Kinder- und Jugendorchester untersuchte, beschreibt dessen Präsenz im gesamten öffentlichen Raum: auf Plätzen, in Theatern, Schulen, Kirchen und Parkanlagen konnte man die schöpferischen Höhepunkte der Kinder- und Jugendorchester verfolgen. Die hohe Kunst der Musik ist kein sozialer Luxus mehr. Wenn Musik zum Alltag gehört, kann ein Kind bei sich zuhause Klarinette vor seinen Geschwistern und den Nachbarskindern spielen, ein anderes Geige in der Tischlerei des Vaters, während andere ihre Begabung und Fortschritte in Konzerten vor dem Publikum des Stadtviertels, der Schule, einem Dorf von Handwerkern oder Fischern vorführen. Die materielle Armut wird durch geistigen Reichtum überwunden, der dank der Musik entsteht. Im gemeinsamen Üben, Spielen und Hören erleben die Kinder und Jugendliche der Orchester und Chöre einen kreativen Austausch. Somit fügt sich Musik mit der von ihr geförderten persönlichen Entfaltung und familiären Dynamik natürlich in das individuelle und kollektive Leben. Lasst uns zur Kunst finden, nicht mehr nur in Museen und Konzerthallen, sondern bei den Menschen und im Alltag, gegen die Verlockungen der Freizeit, gegen Drogen und Gewalt. Kürzlich hat das „Programm der Vereinten Nationen für die Entwicklung der Kinder- und Jugendorchester des Landes », das Projekt als „eines der zehn erfolgreichsten Programme Venezuelas in der Bekämpfung kritischer Armut » gewürdigt, was seinen sozialen Charakter bekräftigt. Durch die tägliche Einbindung von Kindern und Jugendlichen verschiedenster Herkunft in ein Orchester oder einen Chor und durch die Möglichkeit für die weniger Begünstigten, Zugang zur Kunst und zu einer musischen Erziehung zu haben, erfüllt dieses Projekt Tag für Tag seinen Anspruch auf soziale Einbindung und gemeinschaftliche Integration.
Benedetto Croce hat behauptet, dass in jedem Laut, den der Dichter von sich gibt, in jedem Produkt seiner Phantasie sich „das ganze menschliche Schicksal » ausdrückt, „alle Hoffnungen, alle Illusionen, alle Schmerzen und Freuden, die Größe des Menschen und sein Elend, das ganze Drama der Realität, die sich erneuert und ständig über sich hinauswächst ». Für Schiller dagegen muss sich die Kunst, in ihrem metaphysischen Höhenflug, mit nobler Kühnheit über das Bedingte erheben. Als Sohn der Freiheit und Verkörperung der Freiheit, möchte er seine Prinzipien notwendigerweise vom Geist ableiten – und nicht etwa von der rohen Materie. In Schillers Gedanken über die Schönheit und das ästhetische Leben wird ein Begriff von legitimer Freiheit entworfen: Eine nie endende Befreiung von Ketten, in denen die Notwendigkeit und der unstillbare Wille verflochten sind. Jener Wille, den bei Schopenhauer nur die Liebe und die Katharsis des Mitleids überwinden können, die Fundamente der Ethik.
Von diesem Standpunkt aus gesehen wird der Flug der Kunst, wie hoch er auch sein mag, weder seiner Wurzeln beraubt noch verläuft er unabhängig von der Realität. Viel eher, um es mit Friedrich Schlegel zu sagen, manifestiert sich erst dann das Werk eines schöpferischen Genius, wenn es sich als eine Synthese der Endlichkeit und Unendlichkeit erweist. Derselbe Künstler gibt seine Endlichkeit auf, um Instrument des Unendlichen zu werden und seine höchste Mission zu erfüllen.
In dieser und in seiner Eigenschaft als moralisches Wesen, repräsentiert der Mensch das Endliche, das unersättlich nach dem Unendlichen strebt. Wenn der Genius in tranceartigem Zustand ein Kunstwerk schöpft, erahnt er auf mysteriöse Art und Weise den endlosen Abgrund von Raum und Zeit. Das Ganze offenbart sich im Fragment: und hier befindet sich, gemäß der theologischen Ästhetik von Hans Urs von Balthasar, die Substanz selbst der Schönheit, welche die Kunst aller Zeiten definiert.
Es steht den Künstlern zu, die entwürdigte Schönheit, die man des Guten und Wahren beraubte, wiederherzustellen. Um diesen verhängnisvollen Zustand zu beheben, brauchen die Kinder nur Musik zu spielen und eines ihrer unvergesslichen Halleluja zu singen; einer jugendlichen, durch die ästhetische Erziehung geläuterten Seele genügt es die aufregende, erhöhende Schöpfung lieben zu lernen; es genügt, wenn das Ideal jener Schönheit, die das Gute, das Wahrhafte und Gerechte verkörpert, die Geister mit dem Heiligen Feuer entflammt. Jenes Feuer, das bei Teresa von Kalkutta das Gebet in Glauben, den Glauben in Liebe und diese Liebe in Dienst verwandelt hat.
In dem Maße, wie wir Erzieher mit noch leidenschaftlicher Überzeugung an die immensen Möglichkeiten einer Kunst glauben, die nicht mehr ein anachronistisches Bollwerk von Pseudoeliten ist, sondern Schwelle hin zu einer neuen Welt, Tor zu einem Neuen Himmel, werden wir endlich den Teufelskreis der Armut durchbrechen können. Hier ist endlich ein engagiertes Konzept, das Erziehung und Kultur nicht getrennt sieht, sondern sie in ihrer geistigen Dimension zusammenbringt. Indem es prioritär auf der ästhetischen Erziehung beruht, festigt es gleichzeitig im pädagogischen Prozess auch das ethische Bewusstsein. Unser Konzept möchte zur strukturellen Umwandlung des Erziehungssystem beitragen, das sich nach neuen akademischen Vorbildern zu richten hat, damit für eine Neue Welt ein Neuer Mensch erschaffen werden kann. Dieser soll sowohl humanistisch gebildet als auch in der Technik bewandert sein, ein leidenschaftlicher, selbstloser Kämpfer voller kreativer Initiative.
Wenn die künstlerische Erziehung nicht mehr peripher bleibt, sondern ins Zentrum des Erziehungswesens rückt, wird die materielle Armut durch die Kunst in geistigen Reichtum verwandelt. Die hier anwesenden jungen Musiker kündigen eine neue Generation an. Sie haben in der Musik jenseits der Beherrschung rein technischer Fertigkeiten einen sicheren Weg zu neuen, unentbehrlichen Horizonten gefunden. Wer sich davon überzeugen möchte, möge den Lebenslauf von Gustavo Dudamel betrachten: Er ist ein herausragendes Talent unserer Tage, jemand, der als Violinist im Jugendorchester von Venezuela anfing und nun einer der hervorragenden Dirigenten der Welt geworden ist. Von ihm stammt der Satz: „Will man bei der Jugend ankommen, ist Musik der beste Weg: Drogen, Alkohol und Gewalt werden durch unsere Stimmen und durch unsere Instrumente besiegt ».
Die Musik Mozarts birgt eine unsagbare kosmische Kraft, die imstande ist, große Gegensätze zu versöhnen: Sensibilität und Intellekt, Form und Inhalt, leidenschaftlicher und visionärer Dialog, Kampf und Glaube, Schmerz und Hoffnung, Hölle und Firmament, Geschrei und Gesang, Apokalypse und Apotheose.
Die Hand Mozarts führt – durch die Geschichte ihres Wegs zum ewigen Glück – unsere Kinder und Jugendliche. Selbst jene, die aus ärmlichsten Verhältnissen kommen, haben geistigen Reichtum erworben dank der Präsenz Gottes inmitten ihrer Flöten, Harfen und Trompeten. Sie haben, verschanzt in ihren Chören und Orchestergräben, gekämpft und gesungen und sind heute imstande, sich mit ihrem Selbstbewusstseins und künstlerischen Engagement der Welt zu bemächtigen. Ihr Leben ist immer mehr von Liebe und Sinn erfüllt.
Mögen die Salzburger Festspiele sie auf ewig begleiten in dieser so wunderbaren Unternehmung. Davon hängt die Güte und Würde aller Zukunft ab, sowie die Möglichkeit, der künstlerischen Herausforderung – als höchster Kunst des Lebens – auf freie und würdige Weise gerecht zu werden.