Herr Bulva, als Sie 1996 Ihre Hand so schwer verletzten, dass Sie nicht mehr Klavier spielen konnten, was war das für ein Gefühl, was ging da in Ihrem Kopf vor?
Das begann mit der zynischen Feststellung: ‘Ich bin ein Krüppel’. Und wenn Sie Josef Bulva heißen, hatten Sie die Basis, den Sinn des Lebens verloren. Und dann gab es auch eine menschliche Problematik: Als 54-jähriger Klaviervirtuose haben Sie ziemlich beschränkte Kompetenzen, wo sie akzeptiert werden. Das ist nicht wie bei einem Anwalt, der immer noch zahlreiche Ausweichmöglichkeiten hat, wenn seine eigene Kanzlei nicht mehr funktioniert. Und dann hatte ich meine Mutter hier in Luxemburg und musste für sie aufkommen. Ich war komplett verantwortlich für ihre Existenz, ohne Einkommen! Und so war dieser Unfall das schlimmste Szenario, das in der Seele ablaufen kann.
Sie wurden dann Investment Bänker, aber der Wille und die Kraft, wieder Klavier zu spielen wurde wohl nie ausgelöscht?
In den ersten Jahren nach dem Unfall habe ich nicht einmal selbst geglaubt, je wieder Klavier spielen zu können. Doch jeder weiß: ein guter Interpret ist nie zufrieden. Auf der andern Seite weiß er aber auch über seine Fähigkeiten Bescheid. Und nachdem Ihnen attestiert worden war, die schnellsten Oktaven aller Zeiten zu spielen, nehmen Sie versehentlich eine Münze oder ein Glas in die linke Hand, und alles fällt runter, weil die Hand nicht mehr imstande ist, die Aufgabe, zu der es das Gehirn aufforderte, auszuführen. Ich musste das erst einmal akzeptieren. Und gleichzeitig war es meine Pflicht, die Existenz meiner Mutter und die meinige materiell abzusichern. Das ist mir gelungen. Doch dann stellte sich die Frage: ‘Was weiter mit dem Leben?’ Ich war mittlerweile sechzig. Die Musik ging mir immer durch den Kopf, und die Ideen, wie etwas zu spielen ist, kamen mir weiterhin so wie früher. Und das war das Leiden! Ich konnte diese Ideen nicht mehr umsetzen.
Und so passierte es wieder, was mir schon als Kind passiert war. Als ich ganz am Anfang den Musikunterricht besuchte, war ich nicht besonders erfolgreich. Aber ich sagte mir: ‘Du wirst Klavier spielen’, und ich setzte es durch. Ich zwang mich zum Erfolg. Zwischen neun und elf habe ich täglich sieben bis acht Stunden geübt, nur Technik. Und jetzt musste das erneut passieren. Ich habe viele Ärzte aufgesucht, die mir dringend abrieten, mich mit dem Klavier zu befassen, bis ich den Professor Simmen traf, der eine Behandlung versuchen wollte. Und dann sind wir es angegangen, und das war eigentlich eine schlimmere Zeit als zuvor: Vorher war mir klar: ich würde nicht mehr spielen. Jetzt sah ich die Möglichkeit am Ende des Tunnels. Aber der Tunnel war lang und düster…. Ich habe heimlich trainiert, niemand von meinen Freunden und Bekannten wusste davon. Ich kämpfte wieder so verbissen wie damals, als ich neun war.
Und dann kam das erste Konzert, das große Comeback. Was war das für ein Gefühl?
Es war die Fortsetzung dessen, was einmal unterbrochen worden war. Ich gehöre zu der Gruppe Interpreten, die die Anwesenheit des Publikums als selbstverständlichen Teil der Aufführung sehen. Aber ich beschäftige mich weder mit dem Publikum noch mit dem Drumherum. Ich beschäftige mich exklusiv mit dem, was ich spiele. Wie auch immer die Umstände sein mögen, auf dem Podium geht es darum, ein Maximum von dem umzusetzen, was ich über das Werk weiß, das ich spiele, es geht darum, ein Maximum davon hörbar werden zu lassen. Das ist der Auftrag, und da bleibt keine Zeit für andere Gedanken.
Was hat sich verändert? Gibt es einen Unterschied zwischen ‘vorher’ und ‘nachher’?
Am Prinzip Bulva hat sich nichts verändert. Die intellektuelle Annäherung an die Musik hat sich nicht verändert. Aber es wäre falsch zu sagen, es habe kleine Entwicklung gegeben. Ich brüte ja nach wie vor über den Noten und habe auch immer neue Ideen. Aber das ist Teil des Prinzips Bulva. Mit siebzehn Jahren spielte ich das 3. Klavierkonzert von Serge Rachmaninov. Heute spielt das jeder Koreaner, aber damals war das schon sensationell. Man sagt auch heute noch, es sei das schwierigste Konzert der Literatur, aber das stimmt nicht, das Schwierigste ist das Zweite von Brahms. Nun will ich dieses Rachmaninov-Konzert wieder spielen, ich studiere die Partitur und ich sehe, was wir dem Rachmaninov angetan haben. Ich bin also viel weiter, als ich selber war und weiter als jeder brillante Techniker von heute, und sehe, wie ich den Auftrag des Komponisten endlich erfüllen kann, einen großen Bogen in seiner Musik zu spannen, wie bei Brahms. Das will ich machen!
Also reduzieren Sie ihre Aktivitäten nicht nur auf Klavierabende?
Die Zusammenarbeit mit einem Orchester ist Teil unserer Arbeit, jedoch habe ich nie eine große Sehnsucht danach gehabt. Aber es gibt tolle Stücke, und die will ich spielen. Es geht mir schließlich nicht nur um die Wiedererlangung der Spielfähigkeit, sondern auch um die Revitalisierung des Repertoires. Leider ist die Zeit, die ich für Studium der Partituren und Üben habe, nicht ausreichend. Und im Entscheidungsprozess, welche Kompositionen ich wieder ins Repertoire aufnehme, liegt mir die Sololiteratur dann doch näher als die Konzertliteratur.
Sie bringen bei RCA auch wieder neue Schallplatten heraus. Diese Aufnahmetätigkeit ist ja dann auch die Dokumentation der neuen Erkenntnisse, die Sie im Laufe Ihrer Entwicklung gewonnen haben?
Man sagt immer, die Musiker seien kreativ. Wir sind gar nicht kreativ. Wir schreiben keine Komposition. Wir interpretieren die Komposition. Es gibt also die Möglichkeit der Wiederholung. Beethoven hat die Mondscheinsonate einmal geschrieben, aber ich kann sie Hunderte Male spielen. Und so verstehe ich daher meinen Auftrag: so lange ich die Inspiration und neues Wissen habe, muss ich das Recht haben, ein Stück erneut aufzunehmen. Denn damit bereichere ich die Interpretationsgeschichte, und zwar nicht nur im Volumen, sondern auch in der Qualität. Als ich Liszts ‘Irrlichter’ aufnahm, galt für mich das Credo: ‘Jetzt musst du der schnellste sein’, und das bin ich, glaube ich, heute immer noch. Nur würde ich dieses Werk heute niemals mehr so spielen, wie in meiner ersten Aufnahme, nicht weil ich alt bin und technisch nicht dazu fähig wäre, sondern weil ich die Entstellung des Sinnes von Liszt fühle. Ich muss mich auf die ‘Irrlichter’ beziehen. Nicht auf die Notensalve.
Wie viel steht denn in der Partitur, und wie viel bleibt dem Interpreten überlassen?
In der Partitur stehen 70 % dessen, was der Komponist wollte. Und die 30 % für uns bedeuten: Du musst einen Cocktail machen aus deinem Wissen, deinen Fähigkeiten, aus der eigenen Originalität, aus dem Zeitgeist sowie den Gegebenheiten des Saales und des Instruments. Und da gibt es schon viele Möglichkeiten, die einen Sinn ergeben.
Man bezeichnet Sie als Pianisten, der intellektuell, rational an die Musik herangeht…
Ich würde auch versagen, wenn ich versuchen würde, emotional zu sein. Der Druck auf dem Podium ist so stark, dass ich glaube: wenn die Haltung auf dem Podium nicht immanent und grundehrlich ist, dann schafft man es nicht.