Franz Liszt hat Josef Bulva ein Leben lang begleitet. Liszt und Wagner hatten ihn, nach anfänglichem Zögern, dem Verschleiß von mehreren Musiklehrern und dem Zeugnis, das ihn als musikalisch absolut unbegabt abstempelte, zu der für seine Umgebung erstaunlichen Erklärung gebracht: « Ich werde Virtuose! » Man brachte ihn zu einem klavierspielenden Dirigenten namens Václav Lanka, der ihn mit Liszts ‘Mazeppa’ konfrontierte. « Ich saß zwei Meter vom Klavier entfernt und war wie geblendet. Ich sagte nur noch: Ja, das will ich machen! Daraufhin kam er mit Carl Czernys ’40 täglichen Übungen’ und ich kniete mich mit der gleichen Stumpfsinnigkeit hinein, mit der dieser Geschwindigkeits-Fanatiker sein Opus 337 geschrieben hatte. Ich habe damit zwischen sechs und acht Stunden täglich verbracht und erlernte so alle Arten der Technik. Das war mein Startkapital. Bereits mit 12 Jahren spielte ich meine ersten Liszt-Etüden, mit dreizehn die Paganini-Variationen von Johannes Brahms. »
Und auch wenn Bulva im Laufe seiner langen Karriere die Werke vieler anderer Komponisten gespielt hat, so bleibt Liszt doch eine Art Fixpunkt in seinem Leben. Bulva sieht sich selber als Liszt-Interpret und als Liszt-Spezialist: « Es gibt sicher einige Antworten auf die Frage, warum ein Interpret
Beethoven-Spezialist geworden ist und ein anderer Pianist als Chopin-Interpret abgestempelt wird. Aber ich glaube nicht, dass diese Neigung und Spezialisierung ein Teil der Begabung sind, die in der Genkonstruktion im Mutterleib entstehen. Ich bin überzeugt, dass der Beginn einer solchen Profilierung durch die Einwirkung von zufälligen Ereignissen und Empfindungen erzeugt wird, die durch die Wirkung des Talents angezogen wurden. Wenn diese Zufälle sich zur Faszination bündeln – aus welchen Gründen auch immer – lenken sie magnetisierend die Weiterentwicklung.
Bei mir führten sie zu einer großen Bewunderung für Liszt und ich vertiefte mich in sein Schaffen, Handeln und Leben. Das Empfundene und Erkannte konnte ich mit Hilfe der Klaviatur eines Flügels dem Publikum zugänglich machen – und so wurde ich zum Liszt-Spieler. »
Liszt wurde aber für Bulva keineswegs zum kritiklos anerkannten Idol. « Chopin hat immer daran gelitten, dass Liszt leichter Frauen erobern konnte als er, und Liszt hat daran gelitten, dass Chopin besser komponieren konnte. » Und dennoch betont der Pianist immer wieder, Liszt sei genial gewesen. Ein Widerspruch? « Nein! Er konnte manche Ideen am Klavier umsetzen wie niemand sonst, Chopin inklusive, aber man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass viel Stücke leere Hülsen sind, die belegen, dass er doch nicht so begabt war wie Chopin. Zu diesen leeren Hülsen gehören die Transkriptionen, die ich immer gemieden habe. Die Nonchalance, mit der er sich der Werke Wagners und anderer bediente, zeigt, dass das keine künstlerisch großen Werke sind. Einiges hat er sicher auch wegen der Kombination Kaffee und Cognac verschlampt. Die ‘Heilige Elisabeth’ hätte ein anderer Komponist wahrscheinlich zum Anzünden des Kaminfeuers verwendet. Er hat es drucken lassen. Doch Liszt war gleichzeitig der nobelste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er hat fast alle großen Komponisten seiner Zeit finanziert. Ich glaube, es war seine innere Trauer darüber, nicht der Beste zu sein, die ihn dazu brachte, anderen zu helfen. Auch die vielen Erniedrigungen, die er erleiden musste, mögen da eine Rolle gespielt haben. Er war einerseits als Komponist erfolgreich, aber er selber hatte kein Repertoire. Er spielte quasi immer nur Liszt. Darum schickte ihn Mendelssohn ja auch nach Hause, als er ein Mozart-Konzert so ungefähr spielte, dass er immer wieder improvisieren musste, um weiter zu kommen, Mendelssohn konnte das natürlich nicht akzeptieren. Liszt hat kaum je ein richtiges Konzert gegeben. Er hat oft in Gasthäusern musiziert oder in Salons und Palästen. Er hat nur einmal in seinem ganzen Leben ein richtiges großes öffentliches Konzert gespielt, 1933 in Paris. Da war er 22. Sein Kollege Kalkbrenner gab Beethoven-Abende, Brahms-Abende, Liszt nicht. »
Liszt stand auch auf dem Programm von Josef Bulvas ersten Aufnahmen, 1960 in Prag, im Tonstudio von Supraphon. Er war damals 17 Jahre alt.
« Die Campanella war eine meiner ersten Aufnahmen. Und die Umstände waren anfangs gar nicht so positiv. Da war ich, der Siebzehnjährige, gepuscht von dem, den man meinen Pflegevater nannte, dem Ministerpräsidenten, und ich sollte im legendären Tonstudio der etabliert legendären Firma Supraphon aufnehmen. In einem Wort: man hat mich am Anfang nicht ernst genommen. Da gab es dieses langsame Tempo, das ich am Beginn der Campanella wählte, so, dass der Aufnahmeleiter plötzlich sagte: ‘Üben Sie noch oder spielen Sie schon?’ Er wusste nicht, dass dieses Stück ganz langsam beginnen muss und erst nach und nach in Schwung kommt. Und als ich sagte ‘Ich spiele! », murmelte er noch ‘Ja, vielleicht werden sich die Leute daran gewöhnen’, aber nach einigen Sitzungen meinte er, was ich spielte, mache doch Sinn. »
Und so wurde aus dem widerspenstigen Bub der Liszt-Interpret Josef Bulva. « Liszt hat mir seit dem ‘Üben Sie noch oder spielen Sie schon?’ die Bühne geliefert, um meine Technik zu zeigen. Nehmen sie den Anfang der ‘Spanischen Rhapsodie’. ‘Maximal staccatissimo’ wird da gefordert. Und ‘maximal’ ist für mich nicht einfach ‘staccatissimo’, sondern wirklich ‘maximal staccatissimo’. Also habe ich so lange mein Handgelenk trainiert, bis sich diese Musik wie ein Klangprojektil anhörte. Ich sehe mich also als Liszt-Spieler an, weil ich immer den Wunsch hatte, maximal zu zeigen, was man mit dem Klavier machen kann. Er ist das ideale Terrain, am Klavier effektvoll zu spielen. »
Mit 25 jedoch kam Josef Bulva die Einsicht, dass Klavierspielen eben doch mehr ist als Virtuosität. Er beschäftigte sich von da an intensiver mit dem Notentext, durchdrang ihn aufs Gewissenhafteste und erlangte so eine Souveränität, die es ihm erlaubt, gewissen heutigen Virtuosen « mit dem
verständnisvollen Lächeln eines wissenden Menschen zu begegnen. »
Für das vorliegende Doppelalbum erhielt Bulva das Recht, aus über 70 unterschiedlichen Einspielungen von Liszt-Kompositionen « diejenigen auszuwählen, die meinen Werdegang als Liszt-Spieler am besten belegen. »
Sie reichen von den Supraphon-Aufnahmen des Jahres 1960 bis zu Neueinspielungen aus dem Jahre 2014. Sie zeigen also den ganz jungen Bulva, den Interpreten der mittleren Schaffensperiode und den von heute, den Bulva, der 1996 seine linke Hand so schwer verletzte, dass er jahrelang nicht mehr Klavier spielen und erst durch zähes Ringen 2009 aufs Podium zurückkehren konnte. Der Pianist sieht aber keine wesentlichen Unterschiede zwischen ‘vorher’ und ‘nachher: « Am Prinzip Bulva hat sich nichts verändert. Die intellektuelle Annäherung an die Musik hat sich nicht verändert. Aber es wäre falsch zu sagen, es habe kleine Entwicklung gegeben. Ich brüte ja nach wie vor über den Noten und habe auch immer neue Ideen. Aber das ist Teil des Prinzips Bulva. Mit siebzehn Jahren spielte ich das 3. Klavierkonzert von Serge Rachmaninov. Heute spielt das jeder Koreaner, aber damals war das schon sensationell. Man sagt auch heute noch, es sei das schwierigste Konzert der Literatur, aber das stimmt nicht, das Schwierigste ist das Zweite von Brahms. Nun will ich dieses Rachmaninov-Konzert wieder spielen, ich studiere die Partitur und ich sehe, was wir dem Rachmaninov angetan haben. Ich bin also viel weiter, als ich selber war und weiter als jeder brillante Techniker von heute, und sehe, wie ich den Auftrag des Komponisten endlich erfüllen kann, einen großen Bogen in seiner Musik zu spannen, wie bei Brahms. Das will ich machen! »
Bulva bezeichnet man gerne als Pianisten, der intellektuell, rational an die Musik herangeht. Er verneint das nicht: « Ich würde auch versagen, wenn ich versuchen würde, emotional zu sein. Der Druck auf dem Podium ist so stark, dass ich glaube: Wenn die Haltung auf dem Podium nicht immanent und grundehrlich ist, dann schafft man es nicht. »
Das Programm dieses Doppelalbums beginnt mit der E-Dur Etüde, gespielt vom 17-Jährigen ganz « auf Virtuosität und Spannung ». Es folgt die Campanella, « meine erste ‘Querstellung’ zum Arrivierten », die den Aufnahmeleiter der Supraphon so sehr schockiert hatte. « Ich entdeckte bereits damals, dass es falsch ist, diese Etüde im raschen Tempo zu beginnen und dann, temposchwankend, fortsetzen. Liszts Genialität – in der Umwandlung des 3. Satzes von Paganinis h-Moll Konzert – liegt auch darin, dass er mit ‘Einzelglocken’ beginnt und die Beschleunigung auskomponiert. Im berüchtigten Finale erreichen inzwischen einige Kollegen meine Tempi. Wenn Sie jedoch einen finden, der die Musik dabei so dicht, deutlich und glasklar werden lässt, sollten Sie es mir bitte melden. Meine spätere Einspielung kommt da auch nicht mit. »
‘Feux follets’ kommt aus der Gesamteinspielung der ‘Etudes d’exécution transcendante’ für Orfeo aus dem Jahre 1983.
Die ‘Spanische Rhapsodie’ stammt aus dem Jahre 1970 und wurde für Supraphon aufgenommen, aber nach meiner Emigration nach Luxemburg im Jahre 1972 wegen ‘Republikflucht’ nicht veröffentlicht. Diese Masterbände hatte ich in den Westen mitgebracht und betrachtete sie als mein Startkapital. Ich war sehr enttäuscht, als Teldec damit nichts anfangen wollte und eine neue Einspielung wünschte. Die fiel eigentlich ganz gut aus. Im Detailvergleich hört man jedoch heraus, dass ich 1974 mit jeder Note beweisen wollte, was ich alles mit dem Klavier anstellen konnte. Deshalb erreichte ich nicht den Fluss und Schmiss meiner alten Einspielung. Und auch wenn Joachim Kaiser meinte: ‘Es wird Generationen dauern, bis jemand diese Technik zu entfalten schafft’ – die alte Version ist noch virtuoser, sie hat mehr Drive und behält, für mich, die absolute Sonderstellung unter meinen Aufnahmen. »
In Bulvas Atelier in München wurden viele Aufnahmen produziert. So ergab es sich, dass im Archiv mehrere Komplettversionen einzelner Einspielungen liegen: « Dies kommt daher, weil mein immens fähiger Aufnahmeleiter, Wolfgang Stengel, immer etwas anderes liebte, als ich lieferte. Also produzierte ich ohne weiteres Zögern immer wieder andere Fassungen. Die vorliegende Aufnahme der h-Moll-Sonate schätze ich ganz besonders. Sie entstand parallel zu der Interpretation, die bei Mediaphon erschien und wird nun zum ersten Male veröffentlicht. »
Die zweite CD beginnt mit der Ungarischen Rhapsodie. « Der Sex-Appeal dieses Megaschlagers in cis-Moll hatte selbstverständlich bereits in meinem 13. Lebensjahr seine volle Wirkung. Es gibt viele Einspielungen dieses Werks, doch nur eine ist die richtige – die, die 1975 für Bauer in München gemacht wurde. Gewiss – der zweite Teil, Friska, ist immer gut. Doch das ‘Lento a capriccio’ stellt hier in Atmosphäre, Anschlag sowie Phrasierung am besten den Bogen zwischen Inspiration und Vertonung her. Auffällig sind der harte Anschlag des Cymbals und die fast krampfartigen Zuckungen des Primas, das alles in einer überspannten Zigeuneremotion. »
Laut Josef Bulva liefert die E-Dur Polonaise den Beweis für Liszts « Sinn der Vereinfachung und die ihm fehlende Chopinsche Genialität in der Harmonisierung. Als ich die Polonaise 1974 aufnahm hatte ich meine Phase der reinen Virtuosenobsession hinter mir und begann mit dem Studium der Balance im Klavierspiel. Die Polonaise hat phantastische Sequenzen, doch diese zu spielen, als habe Scarlatti sie komponiert, ist das, was sie interessant macht. Wolf-Eberhard von Lewinski notierte, es klinge wie eine elektrische Schreibmaschine im Universum und Prof. Kaiser erfand den Titel ‘Der Pianist des wissenschaftlichen Zeitalters’, der mir jahrelang half. »
Die ‘Wilde Jagd’ (Etude d’exécution transcendante Nr. 8) habe ich für Orfeo aufgenommen. Für dieses Album habe ich jedoch eine klanglich nicht so ausbalancierte, viel aggressivere Version aus meinem Archiv ausgewählt, die 1983 eingespielt wurde. Sie scheint mir die richtigere ‘Wilde Jagd’ zu sein, in der es nichts Phlegmatisches geben darf.
Einiges gibt es zum Mephistowalzer zu sagen, den Josef Bulva zusammen mit ‘Ricordanza’ 2014 neu aufgenommen hat: « Hier repariere ich hauptsächlich die fest eingenistete Unfähigkeit, einen 6/8 Rhythmus durchzuspielen. Ich glaube, man ist verpflichtet, dieses Stück nicht als wilde Jagd zu spielen, sondern als das, was es ist: ein Konzertwalzer mit Rhythmus und Melodik. Alles andere ist vielleicht effektvoll, aber das Werk nur auf Virtuosität zu spielen, ist gewiss nicht im Sinn des Komponisten. Ich bin früher auch nicht darauf gekommen, dass der langsame Walzer nicht jede Note hörbar machen muss, dass man ihn nicht unbedingt auf Klang spielen soll, sondern, dass Liszt hier absolut genial die Sekunde plus Quarte in der linken Hand taktverschoben wiederholt und die Bassnoten schreibt, wie es sich gehört, als Bass und Bariton. Das ergibt dann eine komplett andere Musik. Warum ich das nicht schon früher bemerkt hatte, weiß ich nicht, es steht in den Noten….aber das zeigt wohl meinen Weg von der Obsession der Virtuosität zur Läuterung, zur Abkühlung auf dem Weg zum Grab…. »
Nun hat Bulva nicht nur mehr nachgedacht, er bringt auch das Nachdenkliche, das Reflektive in Liszts Musik besonders gut zum Ausdruck. Ein schönes Beispiel ist die h-Moll-Sonate von 1993. Darauf angesprochen, meint der Pianist: « Wir Interpreten haben drei Abteilungen: Erste Abteilung: To be the best. Das braucht man als Motor. Die zweite Abteilung ist die Notwendigkeit, zu erkennen, dass wir arbeiten müssen, um das, was geschrieben ist, möglichst fehlerfrei dem Hörer zur Verfügung zu stellen. Das ist das Legislative. Die dritte Abteilung ist die spirituell aufregendste. Es geht darum, zu suchen, wie ich bei wechselnden Umständen – anderes Instrument, anderes Publikum, anderer Zeitgeist – der Musik so begegnen kann, dass letztlich immer das heraus kommt, was für die Komposition interessant ist. Und da bringe ich dann meine Originalität ins Spiel, die ich durchaus brauche, die aber nie Selbstzweck sein darf. Und so komme ich zur Frage: Was hätte der Komponist getan, wenn er z.B. für ein Instrument unserer heutigen Zeit hätte schreiben müssen? Wenn ich darüber nachdenke, muss ich Entscheidungen treffen, die im Sinne des Komponisten sind, die aber nicht geschrieben stehen. Die Notenschrift enthält maximal 70 % von dem, was der Komponist im Sinn hat. 30 % kann man nicht notieren. Das gibt mir also einen gewissen Spielraum, den ich benutzen kann, ohne mich der Untreue gegenüber dem Notentext schuldig zu machen. Und so kommt dann auch das heraus, was Sie mit Nachdenklichkeit bezeichnen. Bis in die Mitte meines zweiten Lebensjahrzehnts hinein dachte ich nur daran, die Noten möglichst virtuos darzustellen. Es ging mir um Technik und um Show. Erst danach ging es mir auch um andere Dinge. »
Den Abschluss der zweiten CD macht das Erste Klavierkonzert. « Dass ich das Erste Klavierkonzert auswählen würde war klar. Es ist meines Erachtens dem zweiten deutlich überlegen. Die Konzeption der benutzten Aufnahme von 1991 stammt aus meinem 24. Lebensjahr, aber ich würde es auch heute noch exakt so spielen. »
Und so zeigen denn die alten wie die neuen Aufnahmen, wie nahe Bulva Liszt immer schon war. Mit seiner scharfen Intelligenz und seinem Röntgenblick ist er ein Pianist, vor dem auf Dauer keine Partitur Geheimnisse bewahrt. Er ist ein Pianist, der über die Bedeutung, die Funktion und die Aussagekraft jeder Note nachdenkt und so den Zuhörer ebenfalls zum Nachdenken zwingt. Sein eminent pianistisches Spiel ist die Frucht eines pianistisch denkenden Geistes.