Alexander Liebreich
(c) Bruno Fidrych

Mit dem ‘Katowice Kultura Natura Festival’ (13.05.-22.05.) ging am Wochenende in der oberschlesischen Metropole eines der avanciertesten europäischen Festivals zu Ende. Über Anspruch und Aura der zehntägigen Reihe sprach Pizzicato mit dem Musikpublizisten und ICMA-Jury-Mitglied Martin Hoffmeister.

Die zweite Ausgabe der Veranstaltungsreihe im neuen Konzerthaus in Katowice stand unter der Überschrift ‘Spiritualität’. Zu den Protagonisten des vielgesichtigen Festivals gehörten in diesem Jahr u.a. das ‘Polnische Nationale Radio Sinfonie Orchester Katowice’ (NOSPR) mit seinem Chefdirigenten Alexander Liebreich, die ‘Akademie für Alte Musik Berlin’, das ‘Mahler Chamber Orchestra’, Pianist Grigory Sokolov, das ‘Cuarteto Casals’ und der Jazz-Saxophonist Charles Lloyd.

Herr Hoffmeister, im vergangenen Jahr wurde in Polen mit dem ‘Katowice Kultura Natura Festival’ eine weitere renommierte Veranstaltungsreihe initiiert, die Strahlkraft über die Landesgrenzen hinweg entwickeln konnte. Das passt zu zahllosen anderen Projekten, die das Land in Sachen Klassik angestoßen und realisiert hat in jüngster Zeit. Ein nachhaltiger Trend?
Die Affinität der Polen zur Klassik, im Allgemeinen zu Kunst und Kultur ist natürlich mehr als ein Trend. Sie hat jahrzehntelange Tradition, geht weit zurück schon in die Zeit vor der politischen Wende, denken Sie an Polens Kino- und Jazz-, die Theater- oder die Design-Szene. Und ebenso signifikant und von zentraler Bedeutung für das Land waren natürlich auch die zahllosen Klassik-Aktivitäten. Allein der Blick auf die Orchesterlandschaft, die sich nach dem 2. Weltkrieg in Polen entwickelt hat, nötigt Respekt ab. Hinzu kommen Dirigenten-Legenden, hochdekorierte Pianisten, nicht zu vergessen die vielen bedeutenden Komponisten, die Polen im vergangenen Jahrhundert hervorgebracht hat.

Eine starke Basis, auf die man nach 1989 bauen konnte…
…und wollte. Noch vor anderen hatte man in Polen verstanden, dass ökonomischer Wandel und Neuanfang sich in einer Gesellschaft nur parallel zu einer gefestigten Identität entwickeln lassen. Kultur, insbesondere Musik, klassische Musik, sind und waren dabei immer ein entscheidender, konstitutiver Faktor. Polens nationale Identität lebt ungebrochenen von dieser individuellen wie offiziellen Hinwendung zur Klassik. Deutlich wird das nicht nur durch beeindruckende Besucherzahlen, nachwachsende junge Publikumsschichten und eine landesweit agile Szene mit profilierten Musikern und Hochschulen, sondern insbesondere auch durch den Bau fulminanter Konzert- und Opernhäuser wie etwa in Breslau, Stettin, Danzig, Luslawice oder Katowice. Polen steht zur Klassik und setzt dabei europäische Maßstäbe.

Das NOSPR in seinem Konzertsaal  in Katowice

Das NOSPR in seinem Konzertsaal in Katowice

Dazu gehören auch die fünf wichtigen polnischen Klassik-Festivals: Das Beethoven-Festival und ‘Chopin and his Europe’ in Warschau, ‘Wratislavia Cantans’ in Breslau, ‘Misteria Paschalia’ in Krakau und, seit 2015, das ‘Katowice Kultura Natura Festival’. Katowices Anziehungskraft generiert sich in diesen Tagen ja insbesondere aus dem Wandel von der polnischen Bergbau-Metropole hin zur Universitätsstadt und zum IT-Zentrum. Können in einem solchen Spannungsfeld ein Festival und eine neue Konzerthalle positive Akzente setzen?
In jedem Fall! Bereits das neue Konzerthaus (NOSPR) auf dem Gelände einer ehemaligen Mine setzte mit seiner avancierten Architektur ein Ausrufezeichen. Es signalisiert Aufbruch und manifestiert zugleich den Anspruch der Stadt auf ein nachhaltiges kulturelles Zentrum in der opulenten Metropolregion zwischen Breslau und Krakau. Dass Polens führendes Orchester, das ‘Polnische Nationale Radio Sinfonie Orchester Katowice’ mit dem Bau und seiner brillanten Akustik jetzt auch einen angemessenen Spielort hat, untermauert solche Ambitionen. Mit seinen Saison-Angeboten und dem neuen Festival hat sich Katowice in den vergangenen beiden Jahren zu einem der beliebtesten Anziehungspunkte in Sachen Musik entwickelt. Auch in diesem Fall fungiert Klassik als identifikatorisches Schwergewicht und hilft einer ganzen Region auf die Beine.

Spiritus Rector des neuen Festivals ist der deutsche Chefdirigent des ‘Polnischen Nationalen Radio Sinfonie Orchesters’, Alexander Liebreich. Welche Intentionen verbindet er mit der Reihe?
Liebreich denkt, das zeigen die Spielzeiten unter seiner Leitung, immer programmatisch und strategisch. Er hat den Platz des Orchesters unter den führenden europäischen Ensembles mit Spielkultur und Repertoirevielfalt nicht nur gesichert, sondern darüber hinaus auch deutliche eigene Akzente gesetzt mit einer Programmatik, die das kanonische Werke-Tableau des 18. und 19. Jahrhunderts verbindet mit Werken polnischer Provenienz, herausragendem zeitgenössischen Material und selten aufgeführtem Repertoire. Beispielhaft avanciert erscheinen in diesem Kontext die originären Werke-Kopplungen in den Konzerten des Ensembles. Letztere zeigten sich im Übrigen exemplarisch auch beim ‘Kultura Natura Festival’.

Alexander Liebreich

Alexander Liebreich

Das Festival und die Saisonkonzerte werden vom Publikum enthusiastisch angenommen. Offenbar kann man das polnische Publikum mehr fordern als anderswo?
Wenn die Balance stimmt, gewiss! Nehmen wir etwa Olivier Messiaens kaum aufgeführte, sehr klangsinnliche, aber gleichermaßen komplexe ‘Turangalila Symphonie’, mit der Liebreich das Festival eröffnete. Woanders würde man von so einem spezifischen Akzent zum Festival-Auftakt absehen. In Katowice jubelte das Publikum. Ebenso beim zweiten Abend mit den Kattowitzern als Liebreich Brahms’ ‘Nänie’ op. 82 und ‘Schicksalslied’ op. 54 koppelte mit Weberns ‘Das Augenlicht’ op. 26, Szymanowskis ‘Litany to the Virgin Mary’ op. 59 und Stravinskys Psalmensinfonie. Solche Programme sind im besten Sinne Herausforderungen für Dirigent, Musiker und Publikum. Und dass man auch ohne Beethoven- und Bruckner-Sinfonien, ohne ein Rachmaninov-Klavierkonzert reüssieren kann, zeigten auch die anderen Orchesterkonzerte, bei denen Shostakovichs 14. Sinfonie ebenso über die Bühne ging wie Brittens ‘Les Illuminations’ oder Giacinto Scelsis ‘Elohim’.

NOSPR-1

Der zweite Festivaljahrgang stand unter dem Motto ‘Spiritualität’. Eine anspruchsvolle Überschrift ohne Frage. Wurden die Erwartungshaltungen, die sich damit verbinden, eingelöst?
Zweifellos, denn zum Einen helfen ja Werke wie Schuberts ‘Der Tod und das Mädchen’, zumal in Mahlers Orchesterfassung, Shostakovichs eminent aufgeladene 14. Symphonie, Wagners ‘Siegfried Idyll’, besagte ‘Turangalila Symphonie’ oder mystische Einlassungen wie die des US-Saxophonisten Charles Lloyd, um Spiritualität freizusetzen, zum Anderen bedarf es auch entsprechender Dirigenten, Orchester, Ensembles und Solisten, um Geistigkeit erfahrbar werden zu lassen. Auch in dieser Hinsicht hat Alexander Liebreich auf das richtige Künstlertableau gesetzt. Am Ende vergessen werden darf ebenso wenig die auf allen Ebenen außergewöhnliche Akustik des NOSPR-Konzerthauses, die inspiriert und handwerklich perfekt aufgeführte Musik ins Magische zu transzendieren vermag. So stehen denn das Festival und seine Konzerthalle auch für: Entgrenzung. Mehr kann man nicht erwarten.

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