Kent Naganos Buch ‘Erwarten Sie Wunder!’ habe ich in kurzer Zeit gelesen, verschlungen fast, es hat mich berührt, aufgeregt, geärgert, ich fand es schön, interessant, an mancher Stelle etwas langwierig, manchmal etwas auf typisch amerikanische Art und Weise vereinfachend, ja sogar etwas naiv, dann wieder hoch intellektuell…es gibt von allem in diesem Buch, und es gibt nichts, was einen gleichgültig lässt, nicht einmal Naganos utopischsten Wünsche. « Die Künste, deren geheimnisvollste sicher die Musik ist, machen den Alltag mehr als nur erträglich. Sie inspirieren uns, öffnen den Geist. Sie helfen uns, Unbegreifliches und Unerträgliches anzunehmen und als Teil unseres Lebens zu akzeptieren, daraus Kraft zu schöpfen und nicht daran zu verzweifeln. Nennen Sie mich jetzt einen Träumer, einen Utopisten, wenn ich mir wünsche, dass ein jeder in seinem Leben unabhängig von Bildungsstand und Herkunft die sinnstiftende Kraft der Kunst erfahren können soll ».
Und dieser utopische Nagano kann gleich wieder so schrecklich pessimistisch sein: « Klassische Musik verliert an Bedeutung. Sie droht, zur Liebhaberei gesellschaftlicher Eliten zu werden. Orchester sterben, Politiker kürzen Etats, verlieren sich in Gleichgültigkeit. » Letzteres mag auch noch stimmen. Aber der schreibende Dirigent irrt, wenn er sagt, Klassik verliere an Bedeutung. Hat es je mehr ausübende Musiker gegeben als heute? Hat es je mehr Konzerte gegeben als heute? Die Festspiele und Opernhäuser in aller Welt werden nicht müde, Pressemeldungen mit immer neuen Besucherrekorden zu verschicken…
« Meinen Heimatort, der zum County San Luis Obispo gehört, gibt es erst seit 1870. Die Landschaft war fruchtbar, das Meer voller Fische. Die Menschen kamen aus England, Frankreich, der Schweiz, aus Lateinamerika und Asien. Es wurden viele Sprachen gesprochen und viele verschiedene Feste gefeiert. Natürlich kam es zwischen den Einwohnern so unterschiedlicher ethnischer Herkunft immer wieder zu Auseinandersetzungen, nicht nur unter den Eltern, auch zwischen uns Kindern und Jugendlichen. Aber wenn wir bei Professor Korisheli im Klassenzimmer etwas über Musik lernten, wenn wir im Orchester saßen oder am Wochenende in ganz unterschiedlichen Formationen bei ihm zu Hause Kammermusik machten, verflogen die Konflikte, und die gesellschaftlichen Unterschiede verloren an Bedeutung. Die Musik hielt uns zusammen, gab uns ein Gemeinschaftsgefühl, war ein Ort der Begegnung.“
Nun, Nagano vergleicht Äpfel und Birnen miteinander, will nicht einsehen dass die Zeiten sich verändert haben, dass ein kleiner amerikanischer Landort aus der Nachkriegszeit nicht mit Städten von heute verglichen werden kann. Er verkennt den Einfluss moderner Medien und vieles mehr.
Dass er die Musik einem breiteren Publikum zugänglich machen will, ist klar und wer will es nicht in der Klassikszene (wenn’s denn Klassik bleibt, muss ich hinzufügen, denn eine André Rieu-Kultur wollen wir ja wohl nicht).
Utopisch wiederum ist das Verlangen, die Sinnkrise unserer westlichen Gesellschaften mit ernster Musik zu kämpfen, nach dem Motto, « Klassik für die Krise ».
Aber der Dirigent bereichert den Leser auch in direkter und sehr persönlicher Weise mit den Erzählungen über seine Begegnungen und Erfahrungen mit der Musik großer Komponisten – Bach, Bruckner, Schönberg, Messiaen, Beethoven oder den Amerikanern Charles Ives und Leonard Bernstein.
Und in Gesprächen mit Zeitgenossen aus Politik (Helmut Schmidt), Kirche (Reinhard Kardinal Marx, München), Literatur (Yann Matel, The Life of Pi), Wissenschaft (Julie Payette, Astronautin) und Film (Hollywoodregisseur William Friedkin) unternimmt Nagano den Versuch, die existentielle Kraft der klassischen Musik aus anderen Perspektiven auszuleuchten.
So ist denn Kent Naganos Buch letztlich doch vor allem ein eindringliches Plädoyer für die Klassik.
Kent Nagano und Inge Kloepfer
Erwarten Sie Wunder!
Berlin Verlag
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-8270-1233-3