Von Evgeny Kissin gibt es gar nicht viele CD-Einspielungen, und sein letztes Recital, ein Chopin-Programm, erschien 2007. Nun, 10 Jahre später, bringt Deutsche Grammophon dieses Doppelalbum mit Beethoven-Livemitschnitten heraus. Drei Aufnahmen daraus sind auch schon zehn und elf Jahre alt: die der 3. Sonate, 2006 in Seoul aufgenommen, die der ’32 Variationen’, 2007 in Montpellier aufgezeichnet, und die der 26 Sonate, ‘Les Adieux’, 2007 im Wiener Musikverein mitgeschnitten. Die ‘Mondscheinsonate’ wurde 2012 in der ‘Carnegie Hall’ aufgenommen, die 32. Sonate 2013 in Verbier und die ‘Appassionata’ 2016 im Concertgebouw in Amsterdam.
Die frühe Dritte Sonate erklingt sehr verspielt und rhythmisch variabel, ungemein kraftvoll in den Ecksätzen, und im Kontrast dazu sehr streng und nachdenklich im Andante.
In den ’32 Variationen’ gibt sich Kissin stürmisch und drängend, mit kräftigen Kontrasten, manchmal explosiv, hin und wieder düster vertieft, im Großen und Ganzen aber fieberhaft und in der Diversität des Gefühlsausdrucks entsprechend faszinierend.
Störend ist in diesem Recital der Wechsel von Klavieren und Akustik. So stellt die etwas aus der Distanz aufgenommene ‘Mondschein’-Aufnahme aus der ‘Carnegie Hall’ nicht wirklich zufrieden. Aber das trägt auch zum Interpretatorischen bei, weil der langsame Satz einen Charakter von enttäuschter Melancholie bekommt, der doch sehr bewegt. Das Allegretto wirkt noch sehr ernst, ehe dann das Presto agitato wirklich aufgewühlt und rasant gerät.
Die ‘Appassionata’ ist ungemein radikal in ihren dynamischen wie agogischen Kontrasten und direkt sensationell, was die Verteilung von Licht und Energie anbelangt. Das alles führt zu einer Rhetorik, deren Spannung den Zuhörer komplett vereinnahmt. Eine singuläre Leistung und eine der packendsten ‘Appassionata’-Interpretation, die ich kenne.
Zehn Jahre zuvor geriet seine 26. Sonate im Musikverein nicht ganz so dramatisch, aber immer noch sehr expressiv. Peinlich ist der Auftakt zum zweiten Satz mitten ins unästhetische Hustenkonzert des Wiener Publikums hinein. Die Ausdruckskraft des ganzen Satzes scheint darunter zu leiden. Und auch im dritten Satz denkt man wehmütig an die Klarheit und Transparenz der ‘Concertgebouw’-Aufnahme und an die Qualität des dortigen Flügels, mit dem der Wiener Steinway nicht konkurrieren kann.
Der unangenehm, metallische Klang der 32. Sonate in der Zelthalle von Verbiers beeinträchtigt das Hören ebenfalls sehr, auch wenn man nach einigen Minuten vom packenden Spiel des Pianisten gefangen genommen wird. Düster und bedrohlich der erste Satz, transzendent schwerelos die Arietta! Eine herausragende Interpretation!
Das Album präsentiert mit diesem Programm Kissins Beethoven von 2006 bis 2016, ohne, dass man in seinem Interpretationsansatz größere Unterschiede feststellen könnte. Die kommen, wie gesagt, vor allem durch Akustik und Instrumente.