Pierre Boulez, Komponist, Dirigent, Musikschriftsteller, eine Schlüsselfigur des internationalen Musiklebens, ist im Alter von 90 Jahren in seinem Haus in Baden-Baden verstorben. Geboren in Montbrison (Loire) am 26. März 1925, nahm Pierre Boulez zunächst Klavierunterricht: « Ich bin sehr klassisch erzogen worden. Ich habe als Pianist zuerst die klassischen Werke der Klavierliteratur kennen gelernt. Bach, Mozart, Haydn, Beethoven. Zwar war ich nie sonderlich begabt, um Klavier zu spielen, aber die Werke waren mir nach einer gewissen Zeit sehr vertraut. Die Konzert- und Opernliteratur dagegen habe ich weniger gekannt. Wir haben in einer sehr kleinen Stadt gelebt, etwas grösser als ein Dorf. Da hatte man keine Gelegenheit, ein Symphoniekonzert zu besuchen, geschweige denn eine Opernaufführung. Wenn es Konzerte gegeben hat, dann war es Kammermusik. Später in Lyon, damals war ich ungefähr 16 Jahre alt, habe ich begonnen, mich für die Konzert- und Opernliteratur zu interessieren. Debussy und Ravel waren die modernsten Komponisten, die ich damals kannte, das war 1940/41. Als Interpret habe ich bis dahin nur Klavier gespielt oder mit Amateuren Kammermusik gemacht »
1941 schrieb er sich in Lyon für die Klasse ‘Mathématiques spéciales’ ein, zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für die ‘École Polytechnique’. Doch knapp ein Jahr später entschied er sich dann doch endgültig für die Musik, übersiedelte nach Paris und studierte ab 1944 bei Olivier Messiaen und René Leibowitz.
Wesentliche Anregungen erhielt er im Austausch mit einer internationalen Studentenschar bei den Darmstädter Ferienkursen: « In Darmstadt haben sich Künstler getroffen, die während des Krieges gross geworden sind. Nach dem Krieg wollte niemand mehr zurück, jeder hatte den Drang, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und Neues zu schaffen. Wir wollten erstens die Welt entdecken und zweitens natürlich sie verändern. Und dieses internationale Zusammenkommen und Zusammenarbeiten, dieses sich Austauschen hat somit auf künstlerischem Niveau viel früher eingesetzt als auf politischer Ebene. Und ich glaube, wir sind auch schneller zu befriedigenden Lösungen gekommen. »
Werke von Pierre Boulez wurden bald in Frankreich und auch bei Avantgarde-Festivals im Ausland uraufgeführt. Auch als Dirigent machte er sich schnell einen Namen, er dirigierte vor allem in den USA und ab 1966 auch Wagner-Opern in Bayreuth. Von 1969 bis 1975 war er Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra, von 1970 bis 1977 Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker. Die französische Regierung beauftragte ihn mit Planung und Aufbau des Zentrums für Neue Musik, IRCAM, in Paris, dessen Leitung er bis 1991 innehatte. 1976 gründete er dort das ‘Ensemble InterContemporain’.
Boulez’ Werke waren für Komponisten in aller Welt Orientierungspunkte. Am Anfang seiner Karriere, beginnend mit den späten Vierzigern, war er ein Rebell, der keinen Hehl daraus machte, mit der Musiktradition der ersten Jahrhunderthälfte nichts mehr zu tun haben zu wollen. Er lehnte Erneuerer wie Arnold Schönberg ab (« Schönberg est mort »), dessen Werke er aber später immer wieder dirigierte. Boulez hat Tote zum Leben erweckt.
Als Dirigent erweiterte er sein Repertoire in einem früher unvorstellbaren Maße und dirigierte neben Wagner-Opern auch Mahler und Bruckner. Seine Aufnahmen von Werken Maurice Ravels, Anton von Weberns, Bela Bartoks haben auch heute ihre Bedeutung nicht verloren, sein Mahler-Zyklus gilt als eine der herausragendsten Deutungen der Symphonien des Komponisten.
« Sprengt die Opernhäuser in die Luft » – mit diesem Satz wurde der junge Boulez berühmt. Er wandte sich trotzdem dem Musiktheater zu. Nur, eine eigene Oper kam nicht zustande, bis jetzt nicht, denn ‘Le Monde’ überraschte mit der Meldung, Boulez arbeite an einer Oper ‘Warten auf Godot’ nach Samuel Becketts Meisterwerk. 2015 sollte sie angeblich an der Mailänder Scala herauskommen, zum 90. Geburtstag des Meisters, der die Meldung aber dementierte.
Boulez mag in vielem nachsichtiger, konzilianter geworden sein, er blieb immer ein Kämpfer, wenn es um die Verbreitung von Neuer Musik ging. Deshalb begründete er 2004 die ‘Lucerne Festival Academy’. « Natürlich gibt es genügend Konservatorien und Musikhochschulen. Aber die zeitgenössische Musik wird dort oft vergessen », meinte Boulez. Seine Akademie in Luzern wollte dem entgegenwirken, als eine Art ‘Meisterschule’ für 130 hochbegabte junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt, die sich bei täglichen Proben, Workshops und Lektionen in der Interpretation von Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts fortbilden.
Als Komponist war Boulez jemand, der im Laufe der Jahre gerne an seinen Werken weiterarbeitete: « Es gibt Werke, die ich überhaupt nicht mehr anrühre, andere wiederum zeigen mir auch nach zwanzig Jahren immer wieder Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Im Grunde ist es ein persönlicher Reifungsprozess. Entweder merke ich bei mir, dass ich ein Werk gedanklich noch nicht abschlossen habe, ich es also weiter ausbauen kann, oder ich sehe, dass meine kompositionstechnischen Möglichkeiten besser geworden sind, und ich unterziehe das Werk einer Revision. Wieder eine andere Möglichkeit ist die Uminstrumentierung eines Stückes. Selbst Stücken, die in ihrer Form vollendet sind, tut solch eine Überarbeitung oft gut. Oder ich entdeckte gar Fehler oder einfach technisch schlecht ausgeführte Ideen. Wenn der Grundgedanke für mich stimmt, die Basis, dann scheue ich nicht davor zurück, ein Werk umzuarbeiten. Aber immer mit den Erkenntnissen der Gegenwart. So wachsen die Werke an mir und ich an den Werken. »
Boulez behauptete, seine eigene Entwicklung als Komponist sei sehr linear verlaufen. Aber auch sehr organisiert: « Man kann in der Musikwelt nicht ohne Organisation weiterkommen. Ein modernes Stück verlangt einfach eine perfekte innere Organisation, sonst klappt es nicht. Nur, und das ist wohl das Entscheidende, man muss die Illusion geben, es handele sich bei der Musik um eine Improvisation. In anderen Worten, die Organisation muss so perfekt sein, dass sie nicht zu hören ist. Das ist die richtige Freiheit beim Komponieren. Wenn Sie in einem Stück den Eindruck vermitteln, es sei gut strukturiert, dann haben Sie bereits versagt. Die Improvisation an sich ist sehr gefährlich, weil man sich gerne auf alte Schemata verlässt. Das habe ich schon einmal so versucht, dann könnte es auch hier klappen. So will ich nicht arbeiten. Viel wichtiger ist es für mich, eine Idee zu haben, und eine Organisation dafür zu finde, die neu ist, eine musikalische Lösung, die ich noch nicht irgendwo probiert habe, aber die immer diesen Improvisationscharakter, dieses Gefühl von Freiheit in sich trägt. »