Künstlerische Leiterin Sandra Lied Haga und Ketil Bjørnstad
© Joakim Lied Haga

In Kristiansand/Norwegen startete ein neues Kammermusikfestival. Nicole Czerwinka berichtet.

Zum Auftakt strahlt Franz Schuberts Streichquintett C-Dur in der Domkirche von Kristiansand. Der warme fließende Klang und die sprühende Leidenschaft in der Interpretation von Ludvig Gudim, Grace Rosier (Violine), Ida Bryhn (Bratsche), Sandra Lied Haga und Andrei Ionita (Violoncello) ziehen das Publikum in ihren Bann. Das spielerische Niveau der jungen Musiker hat Weltklasse, die Atmosphäre im Kirchenschiff ist von einer beinahe familiären Nähe geprägt. Großer Jubel für einen glanzvollen Abend. Es ist ein beglückender offizieller Start für das neue Kammermusikfestival Kristiansand.

Das Festival soll nach langer Zeit eine kulturelle Lücke in der Stadt am Südzipfel Norwegens schließen. Tatsächlich gab es hier schon einmal ein Kammermusikfest. Mitte der 1990er Jahre war das, noch bevor das hiesige Sinfonieorchester gegründet wurde. Die lokale Tageszeitung erinnert sich zum Start des neuen Festivals noch an ein spektakuläres Format, bei dem die Musiker auf der Christiansholm Festung, direkt am Hafen, damals eine ganze Nacht durchspielten. Ein ambitioniertes Experiment, das Aufmerksamkeit erregte. Dennoch war nach nur wenigen Ausgaben wieder Schluss mit der Kammermusik in Kristiansand.

Der Zeitpunkt für den Restart 30 Jahre später scheint perfekt. „Viele junge Leute interessieren sich wieder für klassische Musik“, sagt die norwegische Cellistin Sandra Lied Haga. Seit ihrer Jugend konzertiert sie auf den Bühnen der renommiertesten Festivals in Europa, im November 2024 gibt sie ihr Debüt in der Carnegie Hall New York. Als künstlerische Leiterin des neuen Kammermusikfestivals ca. 300 Kilometer südlich von ihrer Heimatstadt Oslo ist sie nun für die Auswahl der Künstler und des Programms verantwortlich, spielt in den meisten Stücken auch selbst mit. Mit Anne Camilla Furre Thommesen hat sie eine Festivalchefin an ihrer Seite, die Stadt und Leute von klein auf kennt und für die finanzielle wie logistische Organisation verantwortlich zeichnet.

Künstlerische Leiterin Sandra Lied Haga und Ketil Bjørnstad
© Joakim Lied Haga

Überall im Land sind in den vergangenen 20 Jahren Kammermusikfestivals gegründet worden. Warum also nicht auch in Kristiansand den Neustart wagen? Anfangs noch klein und vielleicht weniger spektakulär als 1994 soll das Festival jedes Jahr wachsen – und könnte irgendwann zu einem kulturellen Aushängeschild der Hafenstadt werden, das sich organisch zwischen dem seit 2012 bestehendem Konzert- und Theaterhaus Kilden, der 2023 gegründeten Jugendkulturschule Knuden und dem 2024 in direkter Nachbarschaft eröffneten Kunstsilo einfügt.

Die Kommune war von der Idee so begeistert, dass sie schon 2023 flugs die ersten Fördermittel zusagte. Recht kurzfristig und mit familiärer Unterstützung haben die Musikerinnen im vergangenen Herbst dann ein Pilotfestival im Miniformat auf die Beine gestellt: drei Konzerte an drei Tagen, eine Handvoll befreundete Musiker aus Oslo und Kristiansand, das Publikum strömte noch nicht, doch es kam – und erlebte handverlesene Konzerte an drei verschiedenen Orten.

Mit der ersten „offiziellen“ Ausgabe vom 29. August bis 1. September 2024 bekam das Kammermusikfestival Kristiansand nun ein deutlich schärferes Profil. Sieben Veranstaltungen an drei Tagen, plus einer vorgelagerten Session von Meisterklassen an der örtlichen Universität bescherten der Hafenstadt am Tor zum Skagerrak ein intensives Kammermusik-Wochenende, wie es hier sonst nicht zu erleben ist. Zu den zehn Musikern, die an sechs Spielstätten Kammermusik auf Weltniveau präsentierten, zählten diesmal auch internationale Spitzensolisten wie der Cellist Andrei Ionita oder die Pianistin Katya Apekisheva aus London. Dazu haben sich die Festivalgründerinnen zwei Grandseigneurs aus Norwegen eingeladen, die das Kulturleben des Landes seit Jahrzehnten prägen: den Pianisten, Jazzmusiker und Autor Ketil Bjørnstad, der u.a. mit einem Solokonzert zu erleben war, und den Moderator und langjährigen Programmleiter für klassische Musik beim öffentlichen Rundfunksender NRK, Arild Erikstad.

Das Konzept trägt. Die Mischung der Formate befeuerte die Intensität des Musikerlebens mit versonnenen Momenten des Innehaltens und der Reflektion. Etwa bei der kurzweiligen Gesprächsrunde ‚Der Weg zur Musik‘ in der Stadtbibliothek, bei der Sandra Lied Haga und Ketil Bjørnstad moderiert von Arild Erikstad Einblicke in ihre Karriere gaben und dies mit musikalischen Kostproben würzten. Bei dem Konzert „Cellissimo“ im bürgerlichen Gutshaus Gimle Gård trafen mit Sandra Lied Haga und Andrei Ionita zwei Künstlerpersönlichkeiten der jüngeren Cellisten-Generation zusammen, um mit Katya Apekisheva am Klavier ein prickelndes Programm aus Werken von Schostakowitsch und Brahms zu präsentieren. Ebenso wie das Pop-up-Konzert im 9. Stock des brandneuen Kunstsilos in Kristiansand gehörte dieser Nachtmittag zu den heimlichen Höhepunkten des Wochenendes. Mit Blick auf den Hafen und den Kreuzfahrtanleger vis à vis ließen die Interpreten Kammermusik von Schostakowitsch, Elgar, Bach, Brahms und Johan Halvorsen im Kunstsilo sprichwörtlich wieder salonfähig werden. Edward Elgars berühmtes Salut d’Amour (Sandra Lied Haga und Katya Apekisheva) kontrastierte hier spannungsvoll mit Andrei Ionitas rhythmisch virtuosem Vortrag von Svante Henrysons „Black run for solo cello“ oder dem romantischen Adagio affettuoso aus Brahms‘ Sonate für Cello und Klavier Nr. 2 mit Sandra Lied Haga und Katya Apekisheva.

Die Glanzpunkte des Festivals freilich waren die Abendkonzerte, die sich auf drei verschiedene Kirchen im Stadtgebiet verteilten. Neben den bereits genannten Interpreten an Cello und Klavier setzten dabei immer wieder auch der 25-jährige norwegische Geiger Ludvig Gudim sowie die Bratschistin Ida Bryhn markante Akzente. Im Prolog zum Eröffnungskonzert beschwor Ketil Bjørnstad in der Domkirche zu Kristiansand zunächst die magische Kraft der Musik als Sprache, die überall auf der Welt verstanden wird. Im Ohr blieb diese Botschaft durch die berührende Version seines in ganz Norwegen bekannten Liedes Sommernatt ved Fjorden (Sommernacht am Fjord) von 1978, das er am Klavier im Duo mit Sandra Lied Hagas sanfter Cellostimme warm durch den Raum gleiten ließ. Ein liebevoll nordischer Auftakt für das Programm, welches neben einem Schubert-Schwerpunkt Werke von Weber, Schostakowitsch, Brahms, Franck bis Tschaikowski beinhaltete. Für zauberhafte Festivalmomente sorgte etwa Schuberts Klaviertrio Nr. 1 Es-Dur in der Interpretation von Ludvig Gudim, Sandra Lied Haga und Katya Apekisheva, die sich in der Lund Kirche mit hoher spielerischer Präzision einen lebendigen musikalischen Dialog lieferten. Dieses von Enthusiasmus und virtuoser Passion getragene Zusammenspiel bekam mit César Francks Klavierquintett op. 14 noch einen ungleich düsteren, geheimnisvoll leidenschaftlichen Anstrich. Ludvig Gudim, Grace Rosier, Ida Bryhn, Andrei Ionita und Katya Apekisheva sorgten mit ihrer Interpretation für einen beglückenden Abschluss des zweiten Festivaltags.

Zum Abschlusskonzert fegte Tschaikowskis berühmtes Streichsextett „Souvenir de Florence“ wie ein Orkan durch die historische Kirche im Stadtteil Oddernes. Ein musikalisches Feuerwerk, das die Intensität, die Freude und die musikalische Klasse der vier Festivaltage noch einmal wie in einem Brennglas spiegelte. Neben den fünf tragenden Solisten der vorangegangenen Abende machte Inger Margrethe Furre Thommesen das Sextett an der zweiten Bratsche komplett. Gudim, Rosier, Bryhn, Furre Thommesen, Lied Haga und Ionita ließen es hier gehörig brodeln – und sorgten mit Tschaikowski für ein rauschendes Finale. Mitreißend gingen damit drei intensive Tage für Publikum und Künstler zu Ende.

Das künstlerische Potenzial des neuen Festivals ist groß, es kann durchaus mit vergleichbaren Festivals in den europäischen Musikmetropolen konkurrieren. Mit der Varianz aus Spielstätten und Formaten dürfte es auch in der norwegischen Stadt mit stetig wachsenden Einwohnerzahlen bald ein festes Publikum finden. Die in Kristiansand täglich verkehrende Fähre aus Dänemark und regelmäßig ankernde Kreuzfahrtschiffe könnten ihr Übriges dazu tun, das neue Kammermusikfestival als Geheimtipp in der ganzen Welt bekannt zu machen. Nun heißt es für die Festivalgründerinnen dranbleiben und den Enthusiasmus für die Musik ins nächste Jahr weitertragen.

 

Künstlerischhe Leiterin Sandra Lied Haga und Ketil Bjørnstad

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