Carl Reinecke
(c) Gewandhaus Leipzig

Vor 200 Jahren, am 23. Juni 1824 wurde Carl Reinecke in Altona (damals noch nicht zu Hamburg gehörend) geboren. Dies war der Anlass für einige Konzerte in Leipzig, der wichtigsten Wirkungsstätte Reineckes. Michael Oehme berichtet.

Der zu Lebzeiten hochgeschätzte Dirigent, Pianist, Komponist und Hochschullehrer Carl Reinecke war 35 Jahre lang – von 1860 bis 1895 – Gewandhauskapellmeister in Leipzig, so lang wie keiner vor und nach ihm in dieser Funktion. In dieser Zeit brachte er unzählige Werke zur ersten Aufführung, dirigierte u. a. die erste vollständige Wiedergabe vom Deutschen Requiem von Johannes Brahms`, Werke von Edvard Grieg, so dessen 1. Peer-Gynt-Suite als Beispiel. Sein Nachfolger am Gewandhaus wurde Arthur Nikisch, der eine neue Epoche einläutete.

Die Namen der Schüler Reineckes am berühmten Leipziger Konservatorium lesen sich wie ein Who´s who der Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Isaac Albeniz, Max Bruch, Frederick Delius, Edvard Grieg, Leos Janacek, Ethel Smyth, Felix Weingartner, um nur einige zu nennen. Bis 1902 lehrte Reinecke an dieser von Mendelssohn gegründeten Institution. Als Pianist führte er noch 1906 mit seinem Schüler Fritz von Bose Mozarts Konzert für zwei Klaviere Es-Dur KV 365 auf. Reinecke galt als exzellenter Mozart-Interpret. Er starb am 10. März 1910 und ist auf dem Leipziger Südfriedhof begraben. Seine Kompositionen gerieten dann zunehmend in Vergessenheit.

Reineckes Schaffen mit beinahe 300 Opuszahlen wurde als konservativ und zu sehr der Schule Mendelssohns und Schumanns verpflichtet eingestuft. Eine seit den 1990er Jahren vor allem durch CD-Einspielungen einsetzende Reinecke-Renaissance und nun das Jubiläumsjahr 2024 verrücken dieses Bild gründlich. Vorrangig durch die Leipziger Stützen Gewandhaus und die heutige Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy kommt es zu zahlreichen erstaunlichen Wiederentdeckungen.

So hat sich das nun fast schon drei Jahrzehnte international präsente Klavierduo Genova & Dimitrov der Werke Reineckes für zwei Klaviere bzw. zu vier Händen angenommen (auch auf CD bei cpo erschienen). Im Konzert in Leipzig war da zunächst Reineckes Verbeugung vor Johann Sebastian Bach zu hören, die Variationen über die Sarabande aus der Französischen Suite BWV 812, ein frühes in gewisser Weise ehrfürchtiges Werk Reineckes auf der Höhe kompositorischer Meisterschaft. Reineckes Sinn für Stimmungen und Lokalkolorit kommt in den vier Fantasiestücken ‘Bilder aus Süden’ zum Ausdruck. Eines der Stücke ist ein hinreißender Boléro, hinreißend gespielt vom Duo Genova & Dimitrov. Schließlich in diesem Konzert Reineckes große zweite Klaviersonate op. 275. ein Spätwerk also – sehr komplex, gewaltig vom  temperamentvollen bulgarischen Künstlerehepaars stellenweise mit etwas zu viel gespielt, aber auch innig mit einer Paduane im stile antico.

Ruth Reinhardt dirigiert das Gewandhausorchester
(c) Eric Kemnitz.

Das Gewandhausorchester steuerte kurz vor Carl Reineckes 200. Geburtstag seine zweite Sinfonie Hakon Jarl bei (der wie Reinecke im Jahr 1824 geborene Bedrich Smetana hatte das Drama zwischen dem heidnischen Norwegerkönig und seinem christlichen Widersacher ebenfalls aufgegriffen und in eine sinfonische Dichtung verwandelt). Die junge, vielversprechende Dirigentin Ruth Reinhardt gab mit der Reinecke-Symphonie  ihr Gewandhaus-Debüt. Mit gutem Gespür für die melodischen Schönheiten (Holzbläser!) als auch für die effektvollen Passagen dieser beinahe Programm-Musik brachte Ruth Reinhardt diese Symphonie  dem Publikum im wörtlichen Sinne nahe. Es dankte ihr, dem Werk und dem Orchester mit etlichen Bravi.

Schließlich ein Chorkonzert mit dem Gewandhaus-Chor (und dem Gewandhaus-Jugendchor), den kein Geringerer als Carl Reinecke 1861, ein Jahr nach seiner Berufung als Gewandhauskapellmeister gegründet hatte, um über ein hauseigenes Vokalensemble zu verfügen. Unter der Leitung seines jetzigen Chordirektors Gregor Meyer kamen zunächst Carl Reineckes Sommertagsbilder – ein Konzertstück für Chor und Orchester op. 161 zur Aufführung. Das mit fast 60 Minuten Dauer ziemlich ausgedehnte Werk auf Texte u. a von Heinrich Heine, Robert Reinick und Friedrich Rückert verweist schon in spätromantische Gefilde, lässt an Max Reger denken. Im Wesentlichen getragen, vom Chor klangschön interpretiert, erfrischte ein ‘Tanz unter der Linde’ und eine temperamentvolle Schlussfuge im ‘Morgenhymnus’ als letztem Satz. Nach der Pause folgte die Entdeckung: Carl Reineckes Oratorium Belsazar aus dem Jahr 1859. Es erstaunt oder verwundert nicht, dass Komponisten immer wieder Stoffe, die zwischen verfeindeten Völkern und Religionen handeln, vertont haben. Als Textgrundlage wählte Reinecke die gleichnamige Ballade von Friedrich Rückert. Am Beginn verspotten die trunkenen Babylonier die gefangenen Israeliten und tanzen um den geraubten Tempelschatz. Belsazar ist Gott! Doch das Menetekel tritt bald in Erscheinung. Belsazar wird von den eigenen Knechten erschlagen. Die Israeliten betrauern den Sünder, streben aber dem gelobten Land Kanaan entgegen. In seiner Dichte und Stringenz ist Reineckes Belsazar eher eine Kantate denn ein Oratorium. Natürlich lässt Mendelssohns Elias grüßen. Aber in seiner Mischung aus Spannung, Dramatik und innerer Bewegtheit (wunderschön die Altsoli von Nora Steuerwald als Eine Israelitin) ist Reineckes Belsazar ein völlig eigenständiger Beitrag zum Oratorienrepertoire des 19. Jahrhunderts. Reinecke muss das Werke selbst sehr geschätzt haben und hat es sich 1885 zu seinem 25. Dienstjubiläum als Gewandhauskapellmeister gewünscht. Die Veröffentlichung der jetzigen Aufführung mit den Gewandhauschören, der ‘camerata lispiensis’ als Orchester, den Solisten Anja Pöche, Sopran, Nora Steuerwald, Alt, Florian Sievers, Tenor und Bernhard Hansky, Bariton, das Ganze unter der hochversierten Leitung von Gregor Meyer lässt hoffentlich nicht auf sich warten. Jubel für die Ausführenden und für Carl Reinecke. Interessenten an seiner Musik und seiner Persönlichkeit sei das private Carl-Reinecke-Museum in Leipzig-Grünau empfohlen: www.carl-reinecke.de

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