Der Taxifahrer sagt: ‘Hier ist Ihr Hotel’. Ich steige aus und stehe Johann Sebastian Bach gegenüber, der von seinem Sockel streng auf mich herunterblickt. Ich bin im 1000-jährigen Leipzig und logiere im Hotel ‘Arcona Living Bach 14’, gleich neben dem Bach-Archiv und gegenüber der Thomaskirche, unweit vom Gewandhaus und dem Mendelssohn-Haus. In der Hotelhalle erklingt Bach-Musik und über meinem Bett hängt ein überdimensionales Poster der ersten Seite einer Bach-Kantate… Das musikalische Vollbad in einer der musikbeladensten Städte der Welt beginnt.
« Leipzig war im 19. Jahrhundert neben Wien die wichtigste Musikstadt der Welt », wird Prof. Andreas Schulz, der Gewandhausdirektor erklären. Hier wurde Richard Wagner geboren, Bach und Mendelssohn lebten und wirkten hier. Im Gewandhaus wurde der erste Beethoven-Zyklus aufgeführt, auch der erste Brahms-Zyklus, und das Gewandhausorchester spielte unter Arthur Nikisch erstmals in einem Konzert eine Symphonie von Brahms sowie eine von seinem Antagonisten Anton Bruckner. Wichtigste Werke der Orchesterliteratur des 19. Jahrhunderts wurden im Gewandhaus uraufgeführt, darunter Kompositionen von Brahms, Schumann und Mendelssohn.
Ein erster Höhepunkt des zweitägigen Musik-Tauchgangs, der im Kontext einer ICMA-Tagung in Leipzig organisiert wurde, ist die Motette in der Thomaskirche. Jeden Freitag um 18 und jeden Samstag um 15 Uhr finden sich um die 1500 Leute in der Thomaskirche zur traditionellen Bach-Motette ein. Und eine Motette besteht aus Orgelspiel, Chorgesang mit Orchester, Gemeindegesang, Predigt von Pfarrerin Britta Taddiken und Segen. Die Kirche ist voll. Das muss man sich erst einmal vorstellen. Und auf der Empore sitzen Musiker des Gewandhausorchesters sowie die jungen Sänger des Thomanerchors.
Das Gewandhausorchester spielt nicht nur die eigenen Konzerte, sondern auch in der Oper und eben in der Thomaskirche und zählt deshalb 185 Musiker, was die interne Logistik nicht eben vereinfacht. Eine musikalische Dreifaltigkeit eben.
Die Thomaskirche geht auf das 12. Jahrhundert zurück. Hier wurde 1409 die Universität Leipzig gegründet. Zwischen 1492 und 1496 erhielt sie die Gestalt einer spätgotischen Hallenkirche. Hier predigte 1539 Martin Luther zur Einführung der Reformation, hier wirkte Johann Sebastian Bach als Thomaskantor und hier singt seit fast 800 Jahren der Thomanerchor, der alle politischen, religiösen und schulischen Auseinandersetzungen überdauert hat. Gerade ist Georg Biller, der 36. Thomaskantor in der Geschichte des Chores und damit der 16. nach Johann Sebastian Bach, aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt ausgeschieden.
Gestärkt mit Musik vor allem von Bach, aber auch von Heinrich Schütz und Arvo Pärt (Magnificat) geht’s abends zum zweiten Höhepunkt unseres Leipzig-Besuchs, einem Konzert des Gewandhausorchesters unter seinem Chefdirigenten oder, richtiger, dem Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly.
Das heutige Gewandhaus ist das dritte einer Art. 1977 wurde der Grundstein gelegt, gegenüber dem Leipziger Opernhaus, am ehemaligen Standort des Museums der bildenden Künste. Das Gewandhaus war der erste und einzige Neubau einer reinen Konzerthalle in der DDR. Gebaut wurde es auf Verlangen von Kurt Masur. Die Stirnseite des ersten Gewandhaus-Saales (1781) schmückte ein Spruch Senecas, der zum Leitspruch des Orchesters geworden ist: ‘Res severa verum gaudium’ (Wahre Freude ist eine ernste Sache), der auch heute noch im Gewandhaussaal angebracht ist.
Nach der ‘Vocalise’ von Sergei Rachmaninov, erfolgt die Uraufführung des musikalischen Märchens ‘Der Walddämon’ des 1949 geborenen italienischen Komponisten Fabio Vacchi. Das Orchesterwerk entstand im Auftrag des Gewandhauses und gründet auf dem Märchen ‘Plötzlich tief im Wald’ von Amoz Oz. Rhythmik und Schlagwerk prägen das Stück. Scriabin lässt hier genau so grüßen wie Stravinsky. Es gibt wohl sehr schöne Orchestertexturen, viel Schlagzeug, aber für die eingebrachten Ideen ist das halbstündige Werk vielleicht etwas lang.
Nach der Pause dirigiert Chailly eine vor Rhythmik und Energie strotzende, sehr schlanke und pathosfreie Zweite Symphonie Rachmaninovs, als Teil des Rachmaninov-Zyklus, der auch für Decca aufgenommen wird. Beeindruckend ist immer wieder die Qualität des Orchesters, das wirklich zu den allerbesten Europas zu zählen ist.
Der Besuch im Bach-Archiv ist natürlich Pflicht. Es befindet sich am Thomaskirchhof im historischen Haus der Familie Bose, mit der Bach nachweislich eng befreundet war.
Hier laufen die Fäden aus der Bach-Welt zusammen. Hier konzentriert sich die Bach-Forschung. Hier weben die Bach-Nornen am ewigen Strick, dessen Ende, im Gegensatz zu jenem von Wagners Göttern, nicht abzusehen ist. Zu den zentralen Aufgaben des Bach-Archivs gehört die Erforschung von Leben und Werk Johann Sebastian Bachs und der weit verzweigten thüringisch-sächsischen Musikerfamilie Bach vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Das Bach-Archiv betreibt aber nicht nur Forschung, es hat eine Bibliothek, die eine der umfassendsten Sammlungen zu Leben und Wirken der Musikerfamilie Bach sowie einen der weltweit größten Beständen an Originalhandschriften von J.S. Bach und seinen Söhnen enthält. Es führt das mit seiner fantasievoll aufgebauten Elektronik äußerst spannende Bach-Museum – definitiv eines der attraktivsten Musikmuseen der Welt – und veranstaltet das Bachfest sowie den Internationaler Bach-Wettbewerb.
Wer nicht nach Leipzig fahren kann oder will, dem bietet das Portal ‘Bach digital‘ eine digitale Bibliothek mit vollständigen Scans von Werken, einer Datenbank der handschriftlichen Quellen mit Kompositionen der Bach-Familie sowie Werkverzeichnisse der Bach-Familie. 90 % der Autographe und Originalstimmen Johann Sebastian Bachs sind hier bislang online verfügbar. Die Datenbank der J.-S.-Bach-Quellen und das Verzeichnis der Werke J. S. Bachs sind vollständig.
Das 1950 gegründete Bach-Archiv steht heute unter dem Vorsitz von John Eliot Gardiner.
Leipzig hat neben dem Gewandhausorchester noch eine zweite Formation, das Symphonieorchester des Mitteldeutschen Rundfunks MDR. Hier ist ein junger, umtriebiger Musiker Chefdirigent, Kristjan Järvi, der sich mit unkonventionellen Programmen seitlich des Gewandhausorchesters platzieren und in erster Linie neues Publikum gewinnen will. Das erklärt er im Interview, live zugeschaltet aus dem heimatlichen Miami. Neue Formate, neue Inhalte, die Klassikszene müsse sich hinterfragen und sie müsse umdenken, sagt Järvi, wenn sie neues Publikum anziehen will. Sein Konzept findet, wie er sagt, die Unterstützung der Orchestermanagerin Karen Knopp, der Musiker und sogar seines Vaters Neeme.
Ein weiterer Punkt des Leipzig-Besuchs ist die Tour durch die Klavierfabrik Blüthner. Das 1853 von Julius Ferdinand Blüthner gegründete Unternehmen, das in der DDR verstaatlicht wurde, aber unter der Führung des Familie Blüthner blieb, ist heute wieder zu 100% im Besitz der Familie und wird von zwei Vertretern der 5. Generation geführt. Knut Blüthner persönlich führt uns durch die Fabrik, und aus jedem seiner Worte hört man den Stolz des Klavierbauers und die Liebe zu seinen Klavieren, die immer noch handgefertigt werden und deren goldener Ton Pianisten und Komponisten faszinierte. Die Liste der Blüthner-Besitzer ist lang und beeindruckend und es tauchen darin Namen auf wie Claude Debussy, Gustav Mahler, Franz Liszt, Richard Wagner, Piotr Tchaikovsky, Carl Orff, Dmitri Shostakovich, Claudio Arrau, Ferruccio Busoni, Arthur Rubinstein, Wilhelm Kempff, Mikhail Pletnev und Wilhelm Furtwängler. Dieser sagte einmal: « Blüthner-Klaviere können wirklich singen, und das ist das Schönste, was man von einem Klavier sagen kann. »
Nach der wirtschaftlichen Situation gefragt, sagt Knut Blüthner, der 80 Leute beschäftigt, man müsse schon auf den Kostenaufwand achten, aber wenn gespart werde, dann niemals im Bereich der Fertigung. Qualität sei oberstes Gebot, denn „wir bauen ja Instrumente und keine Geräte“.
Unser Leipzig-Besuch kann nicht ohne ein Vorbeischauen beim ICMA-‘Label of the Year’ ‘Accentus’ auskommen. ‘Accentus Music’, mit Sitz unweit der Thomaskirche, produziert weltweit Konzertereignisse, Opern sowie Künstlerporträts und Dokumentarfilme. Auf den DVD-/Blu-ray-Veröffentlichungen des gleichnamigen Labels finden sich herausragende Künstler und Orchester. Seit einiger Zeit produziert ‘Accentus’ auch CDs.
Eine besondere Note erhält unser Besuch durch eine musikalische Stadtführung, die im Mendelssohn-Haus beginnt. Dieses Gebäude in der Leipziger Goldschmidtstraße 12 enthält die letzte (und einzige erhaltene) Privatwohnung des Komponisten. Der spätklassizistische Bau aus dem Jahre 1844 bewahrt originales Mobiliar sowie Informationen über die Familie Mendelssohn, die seit 1845 in der Beletage wohnte. Der Komponist starb dort am 4. November 1847. Das Haus beherbergt heute das 1997 eröffnete Mendelssohn-Museum.
Neben historischen Ausstellungsobjekten gibt es auch einen Raum, in dem man nicht nur Musik hören, sondern auch dirigieren kann. Eine Kamera übersetzt das Dirigieren, und die Musik erklingt dann schneller oder langsamer, ganz wie vom ‘Dirigenten’ gewünscht.
Auf unserem musikalischen Rundgang werden wir vom Vokalquintett ‘Amarcord’ begleitet, das im Mendelssohn-Haus einen ersten musikalischen Blumenstrauß serviert. Nächste Etappe ist das Instrumentenmuseum, wo ‘Amarcord’ Auszüge aus der nächsten CD-Produktion singt, die im März bei ‘Raumklang’ erscheinen wird.
Im Alten Rathaus geht der Rundgang zu Ende, und ‘Amarcord’ zeigt mit einigen populäreren Liedern, wie wohl es sich in einem weitgestreckten Repertoire fühlt. Das Quintett wurde 2013 mit einem Preis der ICMA ausgezeichnet und gehört ganz gewiss zu den besten Vokalformationen der Welt. 1992 von ehemaligen Mitgliedern des Leipziger Thomanerchores gegründet, ist heute nicht oft in Leipzig anzutreffen, da Engagements für an die 100 Konzerte die fünf Sänger in alle Teile der Welt führen. Übrigens wurde ‘Amarcord’ auch schon im Pizzicato mit dem ‘Supersonic’ ausgezeichnet und ich erinnere mich gerne an die CD ‘Rastlose Liebe’ bei ‘Raumklang’, über die ich schrieb: « Das Ensemble geht auf den Hörer zu, kommuniziert die eigene Freude an der Musik, sündigt jedoch nie durch billigen Populismus, sondern bleibt stets geschmackvoll, mit viel Respekt für die Komponisten und ihre Musik. Das sind hoch sensible Interpretationen, wie man sie sich besser nicht wünschen kann. Das Ensemble zeichnet sich durch größte Homogenität und eine wunderbare Präsenz der Einzelstimmen im Ensemble aus. Die Intonation ist lupenrein, die Timbrierung in ihrer Mischung ideal. Wer Freude am Gesang hat, dem wird bei dieser CD das Wasser im Munde zusammenlaufen. »
Falls der Leser nun nach dem hier Geschilderten Lust auf mehr und vor allem auf Musik in Leipzig hat, zum Beispiel im Juni beim Bachfest 2015, kann sich an folgenden Adressen informieren.