Line Adam, was bedeutet es, heute Komponistin zu sein? Haben sich die Herausforderungen nach vielen Jahrhunderten Musik eigentlich verändert?
Ich denke, die eigentlichen Herausforderungen sind noch immer die gleichen. Jeder Komponist, egal ob er vor dreihundert Jahren gelebt hat oder eben heute lebt, hat primär das Bedürfnis, sich musikalisch auszudrücken. Wie er das tut, welchen Weg er wählt, das ist ihm dann überlassen. Ich denke, Musik ist eine Sprache die jeder verstehen sollte und eine Kunstgattung, die auch gefallen darf. Ich sehe es als sinnlos, den Zuhörer mit hässlichen Klängen zu überfluten oder einer Musik, die für den Komponisten vielleicht interessant sein mag, der Hörer aber nicht versteht. Für uns Komponisten heute besteht die größte Herausforderung darin, etwas Neues, Eigenes zu schaffen. Was immer schwieriger wird, denn eigentlich ist schon alles in der Musik gesagt und ausgelotet worden. Auf kompositionstechnischem Niveau wirklich neue Wege zu finden, ist schwierig. Natürlich kann man heute andere Hilfsmittel hinzunehmen, wie beispielsweise Elektronik oder Video, aber ich denke, gerade diese Begrenztheit wirklich neuer kompositorischer Mittel lässt uns nun auf anderem Plan suchen und kreativ werden. Und diese Suche führt uns dazu, besser in uns selber hineinzuhorchen.
Glauben Sie, dass der emotionale Zugang, sich durch Musik auszudrücken, heute ein anderer ist als zu Zeiten von Mozart, Beethoven oder Mahler?
Genau das meinte ich vorhin. Es ist natürlich immer reizvoll, neue Stilmittel auszuprobieren, das hat jeder gute Komponist getan. Und wer will nicht Grenzen sprengen oder Neues schaffen? Das haben Beethoven, Wagner und Mahler auch getan und wurden in ihrer Zeit auch nicht immer auf Anhieb verstanden. Aber ich glaube, wir kommen heute mehr und mehr zu den Werten der alten Meister zurück und ich glaube auch sagen zu können, dass die Musik die Tendenz hat, wieder natürlicher, tonaler und verständlicher zu werden. Für mich persönlich ist es sehr, sehr wichtig, in einer Zeit, die aggressiv, unpersönlich, laut und schnell ist, eine Musik zu komponieren, die genau das Gegenteil ausdrückt, die verständlich ist, die zart ist und die berührt. Ja, auch Musik von heute darf den Hörer berühren. Da sehe ich im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, für die Harmonie in der zeitgenössischen Musik verpönt ist, nichts Schlimmes darin. Musik soll primär aus dem Bauch heraus kommen, nicht aus dem Kopf.
Und dennoch ist die Situation eines Komponisten heute nicht mehr mit der eines Beethoven und Mozart zu vergleichen.
Nein, weil wir eben in einer Zeit leben, wo vieles möglich ist, was damals nicht möglich war. Damals waren die Komponisten ziemlich an ihr persönliches Umfeld gebunden, heute werden wir durch die Migration, das Reisen, die Medien mit neuen, fremden Einflüssen geradezu bombardiert. Es gibt viele interessante Musikrichtungen, Klassik, Jazz, Rock, Chanson, Musical. All dies wirkt sich direkt oder indirekt auf das Schaffen des Komponisten von heute aus.
Sie selbst beschränken sich als Komponistin ja auch nicht auf einen bestimmten Stil sondern komponieren Instrumentalwerke, Opern, machen Arrangements, Film- und Theatermusik und vieles andere.
(lacht) Ja, ich muss auch Geld zum Leben verdienen. Seien wir ehrlich, es gibt nur ganz wenige Komponisten, die von Ihren Werken leben können. Und ehrlich gesagt, in Belgien kenne ich keinen Komponisten, der nicht noch einen regulären Job nebenbei hat. Von der zeitgenössischen Musik können die meisten von uns heute nicht leben. Früher gab es Könige und Fürsten, die ihre Komponisten finanziell unterstützt haben. Heute sind es vielleicht Finanzinstitute, denen es eigentlich um etwas ganz anderes geht, als primär um Kunst als solche. Musik für Filme und Theater zu komponieren, Arrangements zu machen, bringt für mich aber noch einen ganz anderen, sehr wichtigen Aspekt mit sich. Ich lerne eine ganz andere musikalische und menschliche Welt kennen und kann so meinen Aktionsraum permanent erweitern. Gerade bei der Filmmusik besitzt dieses visuelle Element etwas sehr Reizvolles für. Ich habe auch keine Schwierigkeit damit, in meinen eigenen Werken verschiedene Genres zu vermischen. Diese Vermischung eröffnet für mich ganz neue Horizonte.
Sie sagen, dass Sie hier eine ganz andere musikalische und menschliche Welt kennenlernen.
Ja, ich bin ebenfalls Leiterin eines Chores, der sich ‘I Canta Storia’ nennt, und der aus Amateuren besteht. Ziel ist es, alte, meistens einstimmige italienische Volkslieder zu sammeln, die ich dann selbst neu arrangiere. In anderen Worten, alle Mitglieder dieses Chores machen sich intensiv auf die Suche nach musikalischem Material, das wir dann zusammen einstudieren und vortragen. Und diese Zusammenarbeit ist von einer Menschlichkeit, einem ehrlichem, tief empfundenen Interesse und einer Begeisterung geprägt, die ich in professionellen Ensembles und Orchestern oft nicht finde. Leider gibt es im professionellen Bereich der Musik auch sehr viele Musiker, die ihren Beruf nicht mehr aus Leidenschaft ausführen, sondern ihn rein technisch sehen. Da wird gespielt, was der Dirigent will, um 12 Uhr ist Pause, auch wenn wir mitten in einem wichtigen Probenabschnitt sind. Kaum einer bringt eigene Ideen mit und spielt eigentlich nur das, was von ihm verlangt wird. Eine richtige Beamtenmentalität! Bei Amateuren ist das oft anders. Die leben die Musik mit einer Intensität und Begeisterung, die professionellen Musikern manchmal abhandengekommen ist. Ja, und ich wollte diese Art Musik zu machen einfach nicht mehr mitmachen, weil sie nicht meinem Ideal entspricht. Und so habe ich mich auch Bereichen zugewandt, wo ich die Kontrolle selbst in der Hand habe und wo ich mit gleichgesinnten, begeisterten Musikern arbeiten kann. Das bringt mich menschlich enorm weiter.
2015 wurde Ihre zweite Oper, ‘Fleur de peau’, an der ‘Opéra Royal de Wallonie’ aufgeführt. Wie sehen Sie die Entwicklung der zeitgenössischen Oper jetzt allgemein?
Ich sehe die zeitgenössische Oper eher kritisch. Einerseits hat man heute als Komponist sehr viele Möglichkeiten. Bühnentechnisch, videotechnisch ist fast alles möglich und es wird natürlich auch sehr viel Gebrauch von diesen Möglichkeiten gemacht. Andererseits aber habe ich den Eindruck, dass sich die Oper menschlich immer mehr vom Zuhörer entfernt. Das Wesentliche, nämlich die Musik, der Gesang, die Geschichte kommen einfach oft zu kurz. Die Geschichte ist szenisch und musikalisch so verschachtelt, dass das Publikum sie nicht mehr versteht. Und vor allem sollte Oper auch wieder sangbar und für das Publikum unmittelbar erlebbar werden.
Wie sieht denn die Situation der zeitgenössischen Musik in Belgien heute aus?
Schwierig! Die politische Situation in Belgien verhindert ein einheitliches Musikleben und somit fehlt eine gewisse Tradition, auf der junge Komponisten aufbauen können. Diese hat mit Henri Vieuxtemps aufgehört, so dass es bei uns nicht diese kompositorischen Stile und Schulen gibt wie beispielsweise in Deutschland, Frankreich oder den skandinavischen Ländern.
Aber vorher hatte Belgien doch einige sehr bekannte Komponisten hervorgebracht.
Ja, wie Josquin Desprez, Guillaume Duffay, Orlandus Lassus, Joseph Jongen, César Franck und noch einige andere. Auch unter den sogenannten modernen Komponisten gibt es einige, die bekannt sind. Ich denke da an Henri Pousseur, Philippe Boesmanns, Pierre Bartholomé und Robert Janssens. Aber international können wir nicht so richtig mithalten. Allerdings besitzt Belgien eine phantastische Tradition im Bereich der Jazz-Musik, die den belgischen Jazz auch weltweit bekannt gemacht hat.
Momentan arbeiten Sie an einem Filmprojekt ‘The Mercy Of The Jungle von Casey Schroen, Joel Karekezi und Aurélien Bodinaux mit Joel Karekezi als Regisseur. Ist man denn als Komponist bei der Filmmusik künstlerisch nicht zu sehr eingeschränkt?
Im Gegenteil ! Ich finde es unheimlich spannend, wenn mir als Komponisten ein Rahmen gestellt wird. Ich habe für eine bestimme Szene 90 Sekunden Zeit und ich muss etwas komponieren, was sofort auf den Punkt kommt. Ich muss also das Gefühl, den Ausdruck, die Klangfarbe präzise treffen und das in einer vorgegeben Zeit. Das ist ein komplett anderes Komponieren als wenn ich es für mich selbst schreibe. Da kann ich alles selbst bestimmen, ein Thema entwickeln, eine Melodie brechen. Beim Film nicht. Und da gibt es parallel viele verschiedene Punkte zu beachten, wie das Licht, das Spiel der Schauspieler, der Rhythmus der Szene usw. Aber der Film bietet mir auch viele Freiheiten. Sind einmal die musikalischen Grundthemen festgelegt, kann ich mit ihnen arbeiten, sie variieren. Ich kann verschiedene Stile wie Rock oder World mit einbinden.
Wir müssen aber noch kurz auf Ihre langjährige Zusammenarbeit mit den ‘Baladins du Miroir’ zu sprechen kommen, einer ganz besondere Truppe, die in Belgien quasi Kultstatus genießt.
(lacht) Oh ja, die liegen mir sehr am Herzen. ‘Les Baladins du Miroir’ ist an sich eine Schauspielertruppe, die als Wanderzirkus funktioniert und in einem Zelt auftritt. Das heißt, sie leben in Wohnmobilen und reisen von Ort zu Ort. Regelmäßig wird ein neues Stück eingeprobt, meistens ein Klassiker der Weltliteratur und ich bin für die musikalische Umsetzung zuständig. In anderen Worten, diese Schauspieler, die keine musikalische Ausbildung haben, spielen während des Stücks auch Instrumente. Und jeder kennt nur seine Noten oder Töne, die er spielen muss. Das ist unheimlich toll, weil sich hier Theater und Musik auf eine ganz unkonventionelle Weise begegnen. Überhaupt sind ‘Les Baladins du Miroir’ eine ungewöhnliche Truppe, die ihre Kunst zu den Menschen bringen, ähnlich wie das ganz früher war. Ich reise dann auch eine Zeit lang mit meinem eigenen Wohnagen mit und erlebe diese außergewöhnliche Kunst wirklich hundertprozentig. Viele Komponisten machen den Fehler, dass sich in ihrem Büro verschließen und nur für sich komponieren. Komponieren ist aber nicht nur ein intellektueller Prozess. Und wenn ich mit den ‘Baladins du Miroir’ auf Tournee gehen kann, fühle ich mich frei und richtig glücklich. Dann sind meine Musik und ich mitten im Leben.