Am vergangenen Wochenende begann das ‘Lucerne Festival’, das auch in diesem Jahr wieder mit einem spannenden Programm und erstklassigen Interpreten Musikfreunde aus aller Welt anlocken dürfte. Leitthema des Festivals ist diesmal der Humor, und Intendant Michael Haefliger und sein Team konfrontieren das Publikum im Laufe der über 50 Veranstaltungen mit einigen sehr außergewöhnlichen Werken. Alain Steffen berichtet.
Haitinks aussergewöhnlicher Mahler
Den Auftakt machte traditionsgemäß das ‘Lucerne Festival Orchestra’, das nach dem Tod von Claudio Abbado nun Riccardo Chailly als neuen Chefdirigenten begrüßen darf. Da dieser allerdings erst im August 2016 sein Amt antritt, teilen sich Bernard Haitink und Andris Nelsons die diesjährigen Konzerte. Das erste Konzert wurde von Bernard Haitink dirigiert. Auf dem Programm standen Josef Haydns Symphonie Nr. 60 C-Dur Hob. I:60 (Il distratto) und Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4. Beide Werke sind Ausnahmeerscheinungen, Haydns Symphonie ist sechssätzig und überrascht durch einen sehr witzigen Finalsatz während Mahlers 4. Symphonie wohl insgesamt seine heiterste ist. Insbesondere die ersten beiden Sätze fallen durch ihre Unbekümmertheit und Leichtigkeit auf, während der vierte Satz ‘Das himmlische Leben’ eine ganz besondere bildliche Art von Humor verströmt.
Bereits nach den ersten Takten der Haydn-Symphonie wurde ich wieder daran erinnert, dass die Musik wohl nirgends auf der Welt so schön, so natürlich und so transparent erklingt, wie in diesem Saal von Jean Nouvel und Russell Johnson. Selbst der legendäre Musikverein in Wien kommt meines Erachtens nach nicht an die akustische Qualität des Luzerner Saals heran.
Haitink dirigierte die Symphonie Nr. 60 von Haydn mit einem sehr guten Gespür für Rhythmik und Farben. Vor allem ließ der mittlerweile fünfundachtzigjährige Maestro die Musik gewähren. Wie von selbst entwickelte sich Haydns Musik mit ihren wunderbaren Einfällen und Melodien, ihrem Witz und ihrem Charme. Das ‘Lucerne Festival Orchestra’ glänzte mit einer atemberaubenden Spielkultur und einer Klangschönheit, die heute nur noch selten anzutreffen ist. Für mich sind die Konzerte mit diesem ‘Orchester der Freunde’ immer wieder einzigartige Höhepunkte. So war es auch in der 4. Symphonie von Gustav Mahler. Unter der Leitung von Bernard Haitink erblühte diese Musik regelrecht. Und wie es absolute Musik gibt, so scheint es auch absolute Interpretationen zu geben, Aufführungen, die aus sich selbst und über sich selbst herauswachsen, wo Dirigent, Solist und Orchester Teil der Musik werden. Bei diesen Konzerten äußert man sich nicht mehr über Interpretationsfragen, sie werden einfach unwichtig. Haitinks Mahler war solch ein Glücksfall, ein Konzert bei dem alles bis ins kleinste Detail stimmte. Und mit der jungen Sopranistin Anna Lucia Richter hatte man eine vielsprechende Künstlerin gewonnen, die den letzten Satz wie eine Mozart-Arie sang, mit narrativem Charakter, subtiler Gestaltung, einer hervorragenden Gesangstechnik und einer wundervollen Stimme.
Die Geschichte vom Soldaten
Im darauf folgenden ‘Late Night’-Konzert kam Igor Stravinskys teuflische ‘Geschichte vom Soldaten’ zur Aufführung. Neben der ‘artiste étoile’ dieses Festivals, der Violinistin Isabelle Faust, setzte sich das siebenköpfige Ensemble aus Musikern des ‘Lucerne Festival Orchestra’ zusammen. Sprecher war der geniale Schauspieler und Chansonnier Dominique Horwitz, den das Luxemburger Publikum vor kurzem mit einem musikalischen Kafka-Abend bei der Schumanniade Moutfort erleben konnte und der bereits im kommenden Januar zusammen mit der Pianistin Ragna Schirmer mit einem Abend über Clara und Robert Schumann im Echternacher Trifolion zu hören sein wird.
Auch dieses Konzert wurde zu einem Hörerlebnis, weil Horwitz die Geschichte auf eine seine unnachahmliche Weise erzählte und dabei sowohl Publikum wie auch seine Musiker in seinen Bann zog. Die Interaktion zwischen Schauspieler Horwitz und dem Luzerner Ensemble funktionierte optimal, zumal sich beide Partien die Bälle immer wieder zuwarfen und somit wirklich lebendiges Musiktheater boten. Das Luzerner Ensemble um Isabelle Faust glänzte mit einer überragenden musikalischen Leistung, so dass auch dieses Konzert das Prädikat ‘besonders wertvoll’ verdiente.
Auch beim ersten Kammermusikkonzert am Sonntag, dem 16. August, standen die Musiker des ‘Lucerne Festival Orchestra’ im Mittelpunkt. Zusammen mit dem finnischen Pianisten Olli Mustonen führten sie in verschiedenen Ensemblezusammenstellungen Werke von Hindemith, Beethoven, Poulenc und Dvorak auf.
Kammermusik mit Olli Mustonen
Das Konzert begann dann auch gemäß dem Thema Humor mit einer wunderbaren Slapstick-Einlage, die uns auf Hindemiths Ouvertüre zum ‘Fliegenden Holländer’, wie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt für Streichquartett, so die genaue Bezeichnung, vorbereitete.
Hindemith zieht mit diesem Werk Wagners original kräftig durch den Kakao und trumpft mit einigen herrlich amüsanten Einfällen auf. Die vier Musiker Daniel Dodds und Alexander Kagan, Violinen, Danusha Waskiewicz, Bratsche sowie Luca Franzetti, Cello machten sich und dem Publikum einen riesigen Spaß mit ihrer Performance, so dass es etwas dauerte, bis man sich auf das folgende Werk, Ludwig van Beethovens Trio B-Dur für Klavier, Klarinette und cello op.11 ‘Gassenhauer-Trio’ einlassen konnte. Doch mit Olli Mustonen am Klavier war aufregendes Musizieren garantiert. Zusammen mit Allessandro Carbonare, Klarinette und Giovanni Gnocchi erklang Beethovens Stück in einer ebenso dynamisch wie technisch raffinierten Wiedergabe, die zudem noch sehr expressiv war.
Sehr lebendig ging es mit Francis Poulencs Sextett für Klavier und Bläserquintett op. 100 weiter. Dieses lebenslustige Werk voller Charme und Humor besitzt einen sehr populären Charakter mit klarumrissenen Formen und wundervoll melodischen Linien. Auch hier konnte man das Können des ad-hoc Ensembles nur bewundern. Jacques Zoon, Flöte, Allessandro Carbonare, Klarinette, Lucas Macias Navarro, Oboe, Matthiasz Racz, Fagott, Ivo Gas, Horn und Olli Mustonen Klavier entpuppten sich als ideale Klangmaler, die Poulencs Musik ins allerbeste Licht rückten. Ganz andere Farben verlangt das Klavierquintett Nr. 2 a-Dur op. 81 von Antonin Dvorak. Raphael Christ und Tilmann Büning, Violinen, Wolfram Christ, Bratsche, Jens Peter Maintz, Cello und Olli Mustonen hatten keine Schwierigkeiten, den böhmischen Charakter dieses beliebten Quintetts zu treffen und somit dieses außergewöhnliche Kammerkonzert auf allerhöchstem Niveau zu beenden.
Barock mit Isabelle Faust und Kristian Bezuidenhout
Isabelle Faust stand am Nachmittag zum zweiten Mal vor dem Luzerner Publikum. In der bis auf den letzten Platz ausverkauften Lukaskirche spielte sie zusammen mit Kristian Bezuidenhout auf dem Cembalo Johann Sebastian Bachs Sonaten für Violine und Cembalo BWV 1014, 1016 und 1019, sowie die C-Dur Partita für Cembalo-Solo von Johann Jakob Froberger, die Sonata violino solo representativa von Ignaz Biber und dessen Passacaglia g-Moll für Violine-Solo aus den Rosenkranz-Sonaten. Isabel Faust hatte sich für Darmsaiten entschieden um einen besseren Mischklang mit dem Cembalo zu erreichen. Dieses gelang ihr aber nur zum Teil, sehr oft und dies besonders in den langsamen Sätzen, klang der Ton recht sauer, so als wäre das Instrument schlecht gestimmt. Diese Misstöne könnten allerdings auch auf durch Hitze in der Kirche bedingt gewesen sein.
Die Kunst der ‘West-Eastern Divan’-Musiker
Am Abend dann spielte das ‘West-Eastern Divan Orchestra’ unter Daniel Barenboim. Quasi als Geburtstaggeschenk für den neunzigjährigen Pierre Boulez hatten die jungen Musiker aus Israel, den arabischen Ländern und Spanien dessen fünfundvierzig Minuten dauerndes Werk ‘Dérive 2’ in der Fassung von 2006 im Gepäck. Man kann die Leistung der elf Instrumentalisten nur bewundern. Präziser, brillanter und analytischer kann man dieses komplexe, lange Stück nicht spielen. An keinem Moment brach die Spannung ein, so dass man hier berechtigterweise von einer musikalischen Glanzleistung sprechen kann. Barenboim, der das Ensemble leitete, ließ seine jungen Musiker dann auch den Applaus quasi alleine entgegen nehmen.
Bereits am Beginn hatte man die wunderbare Klangkultur des ‘West Eastern Divan Orchestra’ in Claude Debussys ‘Prélude à l’après-midi d’un faune’ bewundern können. Große Geschütze wurden dann in Tchaikovskys Symphonie Nr. 4 aufgefahren. Doch trotz allen Klangspektakels war es eine sehr ausgearbeitete und ernsthafte Interpretation dieser Symphonie, die nicht alleine auf plakative Effekte setzte. Sicher, Barenboim ist ein Dirigent, der gerne in schönem Klang schwelgt, aber hier macht er das so gekonnt und lässt dabei seinen Solisten so viel Zeit, dass diese Vierte zu einem akustischen Abenteuer wird. Selbst die Zuhörer, die diese Symphonie schon oft gehört haben, dürften hier einige ganz neue Aspekte entdeckt haben. In diesem Sinne war der große Jubel am Schluss sicher gerechtfertigt.