Mit der 27. Ausgabe des Ludwig-van-Beethoven-Osterfestivals endete am Osterwochenende in Warschau eine der renommiertesten Reihen des Kontinents. Unter dem Motto ‘Beethoven zwischen Ost und West’ zelebrierten Musiker, Dirigenten, Ensembles und Orchester aus aller Welt entlang von 15 Konzerten neben Kompositionen des Namenspatrons u.a. Werke von Krzysztof Penderecki, Mieczyslaw Weinberg, Gustav Mahler, Mozart, Ravel, Bernstein und anderen Meistern. Martin Hoffmeister besucht das Festival seit 25 Jahren. Pizzicato sprach mit dem Musikpublizisten und ICMA-Jury-Mitglied über die aktuelle Ausgabe.
Herr Hoffmeister, die europäische Klassik-Festival-Landschaft kennt zahllose Highlights, sie ist vielgesichtig, umfasst sämtliche Länder und ist mehrheitlich bemerkenswert erfolgreich. Für Publikum und Fachmedien stellt diese Vielfalt durchaus eine Herausforderung dar, denn es gilt, sich zu entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Einen festen Platz in Ihrer Festival-Agenda nimmt seit einem Vierteljahrhundert das Beethoven-Festival in Warschau ein. Das muss Gründe haben?
Als ich Ende der 1990er Jahre das Festival erstmals besuchte, damals in Krakau, wo die Reihe ihren Anfang nahm, wurde ich mit eindrücklichen Wahrnehmungen atmosphärischer wie künstlerischer Natur konfrontiert. Die Stadt pulsierte, die Menschen schienen den Forderungen des Alltags extrem fokussiert zu begegnen, es herrschte allerorten Aufbruchsstimmung. Überdies war eine, ich möchte sagen, selbstverständliche Affinität zu Kultur vernehmbar, insbesondere auch unter jüngeren Menschen. Ich nahm unmittelbar wahr, was es bedeutet, in einer Kulturnation unterwegs zu sein. Was auch implizierte, dass Kultur nicht als etwas Höheres, Jenseitiges, irgendwie Exterritoriales begriffen wurde, sondern als Bestandteil des Alltags gegenwärtig war.
Diese Erfahrungen bestätigten sich schließlich Tag für Tag bei den Konzertbesuchen. Zum einen überwältigten Respekt und Expertise des Publikums gegenüber Musikern und Werken, zum anderen die natürliche Empathie gegenüber dem Konzertbetrieb im Allgemeinen. Die Werte des ‘Alten Europa‘ waren ebenso präsent wie der ausgeprägte Wille, die Dinge nach vorne zu treiben. Eine beeindruckende Mixtur, die man von den gesättigten Gesellschaften Westeuropas zuvor nicht kannte. Und dieser Eindruck hat sich dann über die Jahre bis heute, über alle gesellschaftlichen und politischen Metamorphosen hinweg, bestätigt. Dass das Festival seit Jahren nun seine Heimat in der quirlig-urbanen Metropole Warschau gefunden hat, änderte im Übrigen wenig an dieser Wahrnehmung.
Insbesondere in den deutschsprachigen Medien spielt die ostmitteleuropäische Kulturszene eher eine untergeordnete Rolle. Wie ist das zu erklären?
Wenn Mauern fallen, bedeutet das offensichtlich nicht automatisch, dass sie auch in den Köpfen beseitigt sind. Selbst in einer globalisierten Welt wirken eingeübte Sozialisationsmuster über Jahrzehnte nach. Entsprechend wenden sich die Blicke eben nach wie vor eher in Richtung Paris, London, Rom, Madrid oder New York als nach Warschau. Solche Ignoranz gegenüber Polen und Warschau wäre wahrscheinlich nach einem Besuch des Landes umgehend obsolet, denn, um nur beim Thema Klassik zu bleiben, keine zweite europäische Nation hat beispielsweise in den zurückliegenden Jahren mehr in neue Konzert- und Opernhäuser investiert, es gibt bedeutende Ausscheide wie den Chopin- oder den Wieniawski-Wettbewerb, zahlreiche hochkarätige Festivals, eine eindrücklich reiche Ensemble- und Orchesterszene, nachhaltige Nachwuchsförderung, einschlägige Museen, Komponistenhäuser, hochdekorierte Institutionen wie das Warschauer Chopin-Institut und die Warschauer Philharmonie, in der fraglos Musikgeschichte geschrieben wurde. Man kann also nur immer wieder an mehr Offenheit gegenüber der polnischen Kultur appellieren und die Errungenschaften der Szene medial ins Licht rücken.
Einer der Leuchttürme der polnischen Klassik-Szene seit fast drei Jahrzehnten ist das Ludwig-van-Beethoven-Osterfestival, ins Leben gerufen und seither kuratiert von Direktorin Elzbieta Penderecka. Wofür steht die Reihe?
Deutlich bewährt hat sich die Idee, das Werk Beethovens als programmatisches Zentrum zu setzen. Denn ausgehend von dessen Werke-Kosmos lassen sich viele sinnstiftende Verbindungslinien ziehen zu Musik, die VOR und NACH ihm entstand, zu Werken und Komponisten mithin, die Beethoven geprägt haben ebenso wie zu Werken nachfolgender Meister, die von Beethoven und dessen Ideen beeinflusst wurden. Und denken wir nur an die beispielhafte Neuerungslust Beethovens, die sein Schaffen kennzeichnete. Dieser Komponist ist nie stehengeblieben, er hat sein Werk vorangetrieben, an seiner Musik gefeilt und mit ihr gekämpft. Am Ende seines Lebens hatte er das Tor weit aufgestoßen in Richtung Romantik und Moderne. Insofern ist Beethovens Werk von eminenter Kompatibilität zum Oeuvre anderer Meister.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich das weite Repertoirespektrum des Festivals zwischen Barockmusik und Werken des 20. und 21. Jahrhunderts. Das zum einen. Zum anderen fungiert der Name Beethoven idealtypisch auch als Botschafter und Medium humanistischer Ideen wie etwa den nationenübergreifenden Austausch und Völkerverständigung. Auch in diesem Feld leisten das Festival, seine Verantwortlichen und Protagonisten Vorbildliches: Warschau und seine Reihe ein Ort der Begegnungen und des Austauschs.
Und was die Musik Beethovens betrifft gewiss auch ein Ort des Erkenntnisgewinns…
…des Erkenntnis- und des Distinktionsgewinns ! Denn sowohl über ein Vierteljahrhundert hinweg als auch während jeder einzelnen Festival-Ausgabe die Möglichkeit zu haben, einzutauchen in diesen komplexen und vielgesichtigen Werkekosmos Beethovens und darüber hinaus den unterschiedlichen, bisweilen konträren Lesarten von Interpreten, von Beethoven-Spezialisten aller Kontinente nachspüren zu können, das ist und bleibt eine solitäre Erfahrung.
Blicken wir konkret auf das Festival 2023 und damit die erste Post-Corona-Ausgabe. Viele Veranstalter befürchteten, dass das Publikum erst sukzessiv in die Konzertsäle zurückfinden würde. Wie stand es um die Auslastung in den Warschauer Spielstätten?
Die Konzerte und Aufführungen in der Philharmonie, im Schloss und in der Oper waren weitgehend ausverkauft. Ein immenser Zuspruch nicht nur für die sinfonischen Angebote und die Abende mit Solo-Konzerten, sondern auch für die herausfordernden Kammermusik-Reihen.
Das spricht für ein Publikum, das über Interesse hinaus auch mit Neugierde und Expertise bei der Sache ist. Wie immer beim Festival konnte man zudem zahllose weitgereiste Besucher ausmachen, aus den Vereinigten Staaten, aus Asien und europäischen Metropolen. Bemerkenswert im Besonderen allerdings die vielen Kinder und Jugendlichen, die an der Seite ihrer Eltern mit großer Ernsthaftigkeit in die Konzerte strömten. Das allein schon zeugt von einem nicht alltäglichen Verständnis von Kultur und Erziehung, denn diese Jugendlichen werden eines Tages wie selbstverständlich ebenfalls aus eigenen Impulsen aufbrechen in die Konzertsäle.
Das Motto des Festivals lautete in diesem Jahr ‘Beethoven – zwischen Ost und West’. Wie sahen entsprechend die Werke-Tableaus der Konzerte aus?
Um Schlüsselwerke des Namenspatrons herum, Werke wie die 5. Symphonie, das 5. Klavierkonzert, die Missa Solemnis, Ouvertüren, Streichquartette und Sonaten, gruppierte man auf der einen Seite Kompositionen polnischer, litauischer oder ukrainischer, auf der anderen Musik amerikanischer, französischer, österreichischer, englischer oder tschechischer Meister. Was fraglos Einsichten erlaubte in vorderhand verborgene Verbindungslinien der heterogenen Tableaus. Einen zweiten roten Faden des Festivals bildeten rund um dessen dritten Todestag die Aufführungen von Schlüsselwerken Krzysztof Pendereckis. Werke wie dessen 5. und 6. Symphonien, die erste Violinsonate, die zweite Sinfonietta in Bezug zu Beethoven, zur Musik Mieczyslaw Weinbergs, Benjamin Brittens, Gustav Mahlers oder Valentin Silvestrovs zu hören, in Korrespondenz also zu Komponisten, die wie Penderecki und Beethoven selbst, vom unbedingten Willen zu originären Klangsprachen geleitet wurden, das erzeugte suggestive und erkenntniszeitigende imaginative Spannungsfelder.
Tradition in Warschau haben allerdings nicht nur unkonventionelle oder überraschende Werkekopplungen, sondern auch Aufführungen unbekannter oder selten gespielter Werke. Dazu gehörten 2023 Erik Saties sinfonisches Drama Socrate ebenso wie Bohuslav Martinus Opern-Einakter Alexandre bis, Toshio Hosokawas Violinkonzert Genesis oder Cindy McTees Timespace. Mit ihrer avancierten Programmatik zeigt die Reihe eindrücklich, dass man auch ohne Repertoire-Einerlei Erfolge zu generieren vermag.
Zum Konzept des Festivals zählte in den vergangenen Jahren, dass man neben weithin bekannten Namen auch unbekannte und/oder Nachwuchskünstler und –Ensembles einlud…
…womit man insbesondere neue Impulse setzten und der personellen Austauschbarkeit, wie sie derzeit viele Festivals dominiert, entgehen konnte. Tatsächlich begegneten dem Publikum in Warschau über zwei Wochen lang Künstler, Dirigenten und Ensembles, die es kaum irgendwo anders erleben dürfte: Etwa das koreanische Jugendsinfonieorchester, das Baskische Nationalorchester, das Radom Kammerorchester oder zahlreiche hochprofilierte Nachwuchsmusiker aus der polnischen Szene. Letztere traditionell gegenwärtig mit den führenden Ensembles des Landes wie den verschiedenen Radio-Sinfonie-Orchestern, der Sinfonia Varsovia, dem Orchester der Nationalphilharmonie, den Posener Philharmonikern oder der Sinfonia Juventus, Dirigenten wie Lukasz Borowicz, Michal Klauza, Jurek Dybal, Jacek Kaspszyk oder dem Apollon Musagète Quartett.
Welche Festival-Höhepunkte möchten Sie benennen?
Trotzdem sich die Reihe sehr ausgeglichen auf hohem Niveau präsentierte, sind einige herausragende Konzerte zu annoncieren. Robert Trevino und das Baskische Nationalorchester nahmen ein durch nuanciert und duftig ausgelesene Exegesen von Ravels Bolero und Pavane sowie Mahlers komplexer 5. Symphonie. Apollon Musagète, Polens führende Quartett-Formation, überzeugte mit einer organisch-ausdrucksstarken Deutung von Krzysztof Pendereckis 3. Streichquartett während in demselben Konzert Solisten um den Cellisten Claudio Bohorquez, die Bratscherin Sarah McElravy und Pianist Lukasz Krupinski mit bemerkenswertem Klangsinn und dichtem Interplay den Tiefendimensionen von Pendereckis legendärem Sextett nachspürten. US-Dirigent Leonard Slatkin navigierte das Orchester der Nationalphilharmonie sicher, präzise und mit Übersicht durch die heikle Partitur von Beethovens Missa solemnis.
Von nachgerade bahnbrechendem, makellosem Handwerk der japanischen Geigerin Hina Maeda getragen war ein Schlosskonzert mit Violinsonaten von Mozart, Wieniawski und Weinberg, bei dem die Gewinnerin des Wieniawski-Wettbewerbs 2022 ihr facettenreiches Kolorit, feinschattierte Dynamik und Beweglichkeit entlang höchsten Intensitätswerten ausspielen konnte.
Durchsetzt von charmant-kurzweiligen Moderationen präsentierte Dirigent John Axelrod am Pult der Sinfonia Iuventus ein rein amerikanisches Programm mit Werken von Bernstein, Gershwin, Villa-Lobos, Aaron Copland und Cindy McTee, das Einblicke in die unterschiedlichen Stilpotentiale und Prägungen amerikanischer Musik spiegelte. Ein eminent spannungsgesättigter, von spieltechnischer und atmosphärischer Verve gezeichneter Abend. Programmatisch, interpretatorisch und handwerklich idealtypisch schließlich das Konzert der Sinfonia Varsovia unter Dirigent Alexander Liebreich, das den Bogen schlug von Lutoslawskis Livre pour Orchestre über Hosokawas Violinkonzert Genesis bis zu Beethovens 5. Symphonie. Entlang von Luzidität, höchstem Klangsensualismus und einem ausgeprägten Sinn für Zeit- und Raumverhältnisse führte Liebreich das Orchester in denkwürdige Dimensionen erlesenen Musizierens.