Frau Rilling, Sie wechselten von der Philharmonie in Luxemburg nach Donaueschingen. Wie fällt Ihr Rückblick auf Luxemburg aus? Ich habe die Zeit, die ich in Luxemburg gearbeitet habe, ungemein genossen. Luxemburg ist wirklich ein besonderes Land. An jedem Tag, den ich in der Philharmonie Luxembourg gearbeitet habe, war ich glücklich, dort zu arbeiten. Ich glaube, es gibt nicht viele Menschen, die dies über ihre berufliche Tätigkeit sagen können. Ich habe Luxemburg als Land sehr schätzen gelernt, vor allem in seiner Offenheit und seinem – im besten Sinne – Pragmatismus, wie Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Sprachen zusammenleben können. Das ist etwas, auf das die Luxemburger gar nicht stolz genug sein können. Ihnen ist vielleicht gar nicht bewusst, wie einzigartig dies ist. Ich habe in Luxemburg auch sehr gerne mit den verschiedensten kulturellen Partnern zusammengearbeitet und freue mich, dass im nächsten Jahr das Ensemble United Instruments of Lucilin zum ersten Mal in Donaueschingen auftreten wird.
Nach einhundert Jahren sind Sie der erste weibliche Direktor der Musiktage. Was konnten Sie im Sinne einer Gleichstellung zwischen Frauen und Männern erreichen?
Die Aufgabe der Gendergerechtigkeit ist eine, die meinen männlichen Kollegen genauso zukommt wie mir. Dass ich eine Frau bin, bedeutet nicht, dass meine Aufgabe anders ist als die der Männer. In diesem Jahr war in der Tat zum einen die Präsenz von Frauen herausragend, die einen Kompositionsauftrag oder den Auftrag für eine Klanginstallation erhalten haben, denn 70% der beauftragten Künstler waren Frauen. Das ist in der bisherigen Geschichte des Festivals beispiellos. Und zum anderen war auch die Präsenz von Frauen in den beiden Orchesterkonzerten so groß war wie nie zuvor. Im ersten Orchesterkonzert wurden ausschließlich Werke von Komponistinnen gespielt. Und wir hatten mit Carol Robinson, die das Orchester koordiniert hat, zum ersten Mal eine Frau auf dem Podium eines Orchesterkonzerts. Auch das war eine Neuerung.
Wie viele der Programmpunkte hatten Sie selbst gestalten können? Wieviel haben Sie, nach dem die Corona-Schwierigkeiten der letzten Jahre endlich überwunden werden konnten, von Ihrem Vorgänger geerbt?
Es sind sieben Werke, die ich geerbt habe. Als 2021 feststand, dass ich die Stelle übernehmen würde, hat mein Vorgänger Björn Gottstein mir eine Liste geschickt von den Werken, die auf 2022 oder 2023 verschoben werden mussten. Dankenswerterweise konnte ich mir aussuchen, welche ich übernehmen wollte. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, ein kohärentes Programm zu entwickeln. Durch verschiedene Umstände gab es dann aber noch weitere Verschiebungen, sodass es schlussendlich wie gesagt sieben Werke waren. Nach Abschluss der Musiktage kann ich sagen, dass tatsächlich alles funktioniert hat und diese Werke nun auch alle aufgeführt worden sind. Sie mussten teilweise drei Jahre auf ihre Uraufführung warten. Es war mir wichtig, dass all diese Werke und Projekte tatsächlich realisiert werden konnten. Manche der schon fertigen Werke wurden nicht mehr verändert. Wojtek Blecharz hingegen hat seine Konzertinstallation Symphonie No. 3 stark weiter entwickelt. Er sagte mir, er sei einfach nicht mehr derselbe Künstler wie vor drei Jahren und der Zeitpunkt jetzt sei viel besser für das Projekt als damals. Seine Geduld wurde also belohnt.
Donaueschingen war früher die Hauptstadt eines souveränen Staates. Heute ist es ein Städtchen mit 22.000 Einwohnern, während der Musiktage aber verwandelt es sich in eine Art Welthauptstadt der Neuen Musik. Wie gelingt es Ihnen, dass mitten in der Provinz die großen Konzerte von mehr als tausend Menschen besucht werden?
Zum einen reist ein sehr treues professionelles Publikum aus vielen Ländern jedes Jahr nach Donaueschingen. Die Musiktage sind für viele ein fester Termin im Kalender und immer noch ein Branchentreffen (nicht nur) für die deutschsprachigen Szenen zeitgenössischer Musik. Dazu kommt unser Stammpublikum vor Ort und aus dem Sendegebiet des SWR, das für das Festival sehr wichtig ist. Außerdem sind wir sehr froh über das Next Generation Programm für 102 Studierende, die sich ansonsten Anreise, Unterkunft und Konzertkarten kaum würden leisten können, in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule Basel. Die kostenlosen Klanginstallationen erfreuen sich sehr regen Interesses, weshalb wir in diesem Jahr auch drei kostenlose Führungen durch die Klanginstallationen eingeführt haben. Für die Einwohner des Schwarzwald-Baar-Kreises habe ich zudem Vorzugstickets für 12 Euro für alle Konzerte eingeführt. Damit sollte zum einen deutlich werden, wie wichtig es uns ist, dass die Donaueschinger Bürgerschaft in die Konzerte kommen und zum anderen die Hemmschwelle gemindert werden. Dieses Angebot wurde rege wahrgenommen; wir wollen es in den kommenden Jahren fortführen.
Als Thema der Donaueschinger Musiktage 2023 haben Sie „Collaboration” gewählt.
Die zeitgenössischen Musikszenen verdanken ihre Vielfalt und Lebendigkeit ganz wesentlich der Entwicklung, dass kollaborative Praktiken, wie sie in anderen Künsten seit langem gang und gäbe sind, eine zunehmend große Rolle spielen. Die klassische Arbeitsteilung zwischen Komponisten und Interpreten verliert da zunehmend an Relevanz. Im Englischen gibt es den Begriff der distributed creativity, der das gut beschreibt. Ein besonders interessantes Projekt war auch in dieser Hinsicht ‘Occam Océan Cinquanta’ von Éliane Radigue und Carol Robinson, die in ihrem Orchesterwerk komplett auf eine Partitur verzichtet haben. Zunächst in einer kleinen Gruppe, dann in Register- und später Tuttiproben hat Carol Robinson das Werk entwickelt. Wir sind sehr glücklich, dass ein Filmteam im Auftrag des SWR den gesamten Entstehungsprozess begleitet hat und wir Anfang kommenden Jahres dann den Film werden vorstellen können.
Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Welthauptstadt der Neuen Musik Donaueschingen 2023: Ein Wunder in der tiefsten Provinz