In der Mahler-Edition mit Michael Gielen ist eine Aufnahme der 6. Symphonie enthalten, die ca. 85 Minuten dauert und als zweiten Satz das Scherzo präsentiert, als dritten das Andante, so wie es lange Zeit über für richtig gehalten wurde, bis Gilbert Kaplan bewies, dass Mahler letztlich immer an der Reihenfolge Andante Scherzo festgehalten hatte.
Nun veröffentlicht SWR Music zwei weitere Einspielungen der Sechsten Symphonie unter Gielen, jene von 1971, in schnellen 74 Minuten mit der Reihenfolge Scherzo-Andante und jene von 2013, aufgenommen bei den Salzburger Festspielen, in langen 94 Minuten und mit der Reihenfolge Andante Scherzo.
Gielen hat also in der Interpretation dieser Symphonie einen langen Weg zurückgelegt. Welche Welten zwischen zwei Mahler-Interpretationen liegen können, zeigen diese zwei Einspielungen, denn sie liegen mit 20 Minuten Unterschied weit auseinander.
In der Aufnahme von 1971 peitscht Gielen sein Orchester regelrecht durch die Symphonie, mit einem dramatischen und spannungsgeladenen Straight forward-Musizieren. Diese Unerbittlichkeit resultiert denn auch in schnellen 74 Minuten, welche die insgesamt sehr packend gespielte Symphonie dauert.
Schon der Vergleich mit der Aufnahme von 1999 zeigt, dass der bedächtigere Gielen weitaus mehr Musik hörbar macht und eine ebenfalls starke und ergreifende, ja sogar Frösteln auslösende Spannung aus der intellektuellen Durchdringung heraus erzielt.
Das Schicksal schlägt 1999 in 85 Minuten ganz anders zu als 1971, hintergründiger, schauriger. Dieser Eindruck verstärkt sich in dem Salzburger Livemitschnitt von 2013.
Wer glaubt, die ausladend große Wucht des nun fast 28 Minuten dauernden ersten Satzes führe zu Schwere und vielleicht sogar Langeweile, der irrt.
Die langsamen Tempi verhindern weder Innenspannung noch Ausdruck und Tiefe. Die Emotionen kommen ergreifend herüber, denn sie werden bohrend umgesetzt, sie erlangen durch kräftige Kontraste Bedeutsamkeit. Im langsamen Satz werden Zufriedenheit und inneres Glück immer wieder in Frage gestellt, und das langsame Scherzo – ich kenne kein anderes, das über 16 Minuten dauert – wird in hohem Masse grotesk und verzerrt und das Tempo verleiht dem Klang einen unheimlichen Duktus voller Widersprüche. Die Musik windet sich in qualvollen Spiralen durch eine zerrüttete Seelenwelt voller Abschiedsvisionen und tropft quasi in die Unterwelt.
Mit viel Vorahnung auf schlimme Ereignisse, die Mahler im Finale skizziert, gestaltet Gielen hier eine Musik des Schreckens, verziert mit ironischen Glückseinschüben.
34 Minuten und 40 Sekunden lang zieht sich dieses apokalyptische Drama hin und wird im zweiten Teil des Satzes fast unerträglich in seiner düsteren Vision. Kraftvolle Kontraste, bohrende Klänge, unerbittliche Rhythmen, irreal wirkende Erinnerungen an bessere Zeiten… kaum je hat man Mahlers nihilistische Vision stärker erlebt als in dieser Interpretation.
Und so bietet uns diese Box neben der schnellen Sechsten von 1971 mit der Aufnahme von 2013 eine der außergewöhnlichsten Mahler-Aufführungen, die ich je gehört habe.