Mahler-Aufnahmen aus dem vergangenen Jahrzehnt veröffentlichen die Berliner Philharmoniker auf ihrem eigenen Label. Daniel Harding ist der Dirigent der Ersten Symphonie. Von dem Briten kenne ich nur gute und sehr gute bez. herausragende Mahler-Einspielungen: eine gute Vierte mit dem Mahler Chamber Orchestra, eine elektrisierende Zehnte mit den Wiener Philharmonikern und gute Einspielungen der Sechsten (Bayerischer Rundfunk) und der Neunten (Schwedischer Rundfunk). Seine Erste aus Berlin ist ebenfalls herausragend. Es gibt darin so viele klar herausgearbeitete klangliche Details, ein so brillantes Orchesterspiel, soviel Transparenz und neuartig klingende Schichtungen, so viel Spannung und Spontaneität auch, dass man sie als sehr attraktiv und höchst interessant bezeichnen muss. So viel aufregende Musik hört man selten in diesem Werk. Und wenn am Schluss der Klang schnell, zu schnell ausgeblendet wird, um den Applaus zu verhindern, ist das ein Coitus Interruptus der schlimmsten Art.
Andris Nelsons steht für die Zweite vor dem Orchester. Er dirigiert einen kraftvollen ersten Satz, ein sehr lyrisches Andante, doch der dritte Satz ist etwas flach und von der Ironie und dem bitteren Sarkasmus ist nichts zu spüren. Den 4. Satz finde ich in seinen dynamischen Veränderungen relativ unausgegoren, kontrastarm, gewissermaßen anti-expressiv und dem Text sicherlich nicht angepasst. Auch der erste Teil des 5. Satzes bleibt rhetorisch schwach. Nelsons scheint die Angabe ‘Wieder zurückhaltend’ etwas zu strikt befolgt zu haben, was eindeutig auf Kosten der Spannung geht. Leider bleibt auch das ‘Langsam Misterioso’ sehr schwach, mit leidenschaftslos singenden Solistinnen. Als Hörer wartet man ständig, dass plötzlich doch noch was passiert, aber es passiert nichts.
Daniel Nézet-Séguin, von dem ich eine sehr schwache Erste und eine exzellente Achte kenne, (Rezension 1, Rezension 2) dirigiert in dieser Zusammenstellung die Vierte Symphonie. Es ist eine durchwegs gute, aber in keiner Hinsieht herausragende Aufnahme. Auch Christiane Karg bleibt unter dem zu erwartenden Niveau.
Auch Gustavo Dudamel kann mich mit seiner Interpretation der Fünften nicht überzeugen. Die Zerrissenheit der Symphonie erfährt man hier nicht. Die Trunkenheit der Musik, das Melancholische, kurz die ganzen Fin-de-siècle-Stimmungen entfallen bei Dudamel. Seine Interpretation ist oberflächlich, vordergründig, nicht wirklich zusammenhängend, und in einer etwas anbiedernden Art theatralisch, überbelichtet und demonstrativ. Aber Dudamel hat schon etliche Orchester an Mahler vorbeigesteuert.
Das gilt leider auch für Petrenkos Sechste. Auch wenn die Philharmoniker spontaner und engagierter spielen als bei Dudamel, dringt auch Petrenko nicht in Mahlers Welt ein. Er inszeniert die Sechste als virtuoses Showstück, orchestral glänzend, transparent, schlank, detailverliebt, aber eben halt nur auf pure Klangwirkung aufbauend. Das Hintergründige, Schaurige der Symphonie bleibt auf der Strecke.
Zum richtigen Mahler finden wir dann mit Simon Rattle zurück. Er ist ja seit vielen Jahren ein anerkannter Mahler-Dirigent. Er zeigt das mit dieser Siebenten Symphonie, die darzustellen zu den schwierigsten Aufgaben eines Mahler-Dirigenten gehört. Durch eine hinreißende Detailpflege, eine bemerkenswerte Dynamisierung und eine schier unbegrenzte Farbenpalette erfolgt eine sehr lebendige Umsetzung der Partitur, die der Orchestersprache Mahlers vollauf gerecht wird.
Rattle inszeniert in der ersten Nachtmusik ein Panoptikum an Eindrücken von Ballräumen, Volksfesten, Kirmesatmosphäre und mehr. Der Satz wird, genau wie das schattenhafte Scherzo, zu jener Insel der Träume, die einst einer der besten Mahler-Kenner, Richard Specht, beschrieben hat. Die zweite Nachtmusik wird ungemein sensuell dargestellt. Das finale Rondo lässt er mit einem Maximum an Klanglust musizieren. So wird es ein Orchesterfest fürs Ohr, ein Glanzstück für die Berliner Philharmoniker und ein wirklich köstlicher musikalische Spaß.
Auch die Achte Symphonie wird in dieser Kollektion von Simon Rattle dirigiert. Er hütet sich vor emotionalem Chargieren, verleiht dem Veni Creator-Hymnus Kraft, durchleuchtet die Partitur und pflegt die Details, aber jubelnden Schwung, wirklich mitreißendes Musizieren gibt es nicht, weder im Veni Creator Spiritus noch im Finale des 2. Satzes, so grandios er es auch steigern mag. Trotz des detailreichen und gut durchleuchteten Musizierens kommt Rattles Interpretation nicht annähernd an das beglückende Zusammenspiel der Berliner Philharmoniker, der Chor-Heerscharen aus Berlin, Prag und Bad Tölz sowie eines einmaligen Aufgebots bei den Solisten unter Claudio Abbado (1994, Deutsche Grammophon) heran. Aber wie der Italiener das Drama nicht zugunsten der Vergeistigung vernachlässigte – und vice versa, das war auch eine singuläre Leistung.
Bernard Haitink, von dem ich eigentlich nur herausragende Mahler-Interpretationen kenne, dirigiert eine sehr lebendige, durchgehend ausdrucksvolle Neunte, in der sich vor dem finalen Adagio viel Energie manifestiert, u.a. in den rustikalen Ländlern und im scharf-satirischen Rondo-Burleske. Umso mehr Ruhe und Konzentration macht das Adagio zu einem sehr emotionalen Erlebnis.
Mit ihren emotionalen Gegensätzen ist Mahlers Zehnte Symphonie die vielleicht ergreifendste Mischung aus Selbstzerfleischung und Trost in der Musik. Claudio Abbado dirigiert nur den ersten Satz, Adagio, in der von Deryck Cooke erarbeiteten Konzertfassung. Er versenkt sich und uns vom ersten Takt an in die Musik. Die gellenden Aufschreie bringt er bohrend zum Ausdruck.
Und so endet diese Mahler-Box nach etlichen Enttäuschungen mit einer sublimen Interpretation. Aber Abbado war ja auch ein anerkannter Mahler-Dirigent, einer der größten, zweifellos.