Herr Honeck, zusammen mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra haben Sie kürzlich die 5. und 7. Symphonie von Ludwig van Beethoven aufgenommen (Pizzicato-Rezension hier). Inwieweit haben sich die Beethovenrezeption und das allgemeine Beethovenbild mit der Zeit verändert?
(lacht) Die Antwort dazu könnte ein ganzes Buch füllen. Ich denke, man muss zuerst von der Zeit und dem sozialen Umfeld ausgehen, in denen Beethoven gelebt hat. Welche Bedeutung hatte damals die Musik? Für wen war sie geschrieben? Was wollte Beethoven damit bewirken? Musik und Musikmachen ist immer ein Spiegel der Zeit. Deshalb finde ich es auch schwierig, die historische Aufführungspraxis als eine allgemeine Wahrheit anzusehen. Sie gibt uns Hinweise, auf jeden Fall, und sie ruft uns ins Gedächtnis, wie die Musik damals aufgeführt wurde. Mit anderen Instrumenten, mit kleinen Ensembles, in kleinen Sälen und ohne Dirigent. Damals gab es bestenfalls den Leiter, also meistens den Konzertmeister des Orchesters, der die Funktion des Koordinierens übernahm. Damals ging es nicht vorrangig um Interpretationen, sondern um eine korrekte Wiedergabe des Werkes. Es war auch unmöglich, einheitliche Interpretationskonzepte zu entwickeln, denn die Aufführungen fanden ja meistens in großer Distanz zu einander statt und die Ensembles hatten keinen direkten Kontakt zueinander.
Dann kam die Romantik…
…und bewegte viel. In dieser Zeit gab es sehr viele Freiheiten, die strengen Regeln der Klassik und des Barock galten nicht mehr. Man suchte mehr nach Emotionen und nach den eigenen Emotionen, so dass der persönliche Geschmack des Künstlers immer mehr in den Vordergrund rückte. Das führte dazu, dass es zu Tempoänderungen und einem insgesamt neuen Klangbild kam. Die Orchester wurden größer, und mit ihrer Größe verschwand auch die Wendigkeit, die wir ja heute in den historischen Ensembles wiederfinden können. Große Symphonieorchester waren und sind schwerfälliger, was sich natürlich auf Tempowahl und Emotionalität auswirkte. Die Klarheit, die Transparenz der klassischen Aufführungen verschwand zu Gunsten eines aufgeblähten, vollsymphonischen Klangbildes. Veränderungen wurde in den Partituren gemacht, Rubato und Portamento setzten sich durch. Die passten zwar sehr gut zu den Werken der Romantik, allerdings weniger gut zu der Musik der Klassik. Diese Philosophie der großen Orchester wurde dann bis nach dem 2. Weltkrieg beibehalten, obwohl vorher schon Komponisten wie Berg, Schönberg und Webern neue Wege eingeschlagen hatten. Die Neuer Wiener Schule und später Darmstadt führten nach und nach zu einem Umdenken. Moderne Dirigenten versuchten trotz großer Orchester, den Bombast aus Beethovens Werken herauszunehmen und seine Musik wieder mehr im Sinne der Klassik zu interpretieren.
Welche Rolle spielte den die historische Aufführungspraxis?
Die historische Aufführungspraxis war wohl die konsequenteste Antwort auf das traditionelle Beethoven-Bild. Es war nun eine Frage des Vibratos, und der Wunsch, ein neues Gleichgewicht zwischen Aussage und Gehalt, also zwischen Emotionen und geschriebenen Notentext zu finden. Und da stehen wir heute! An einem Scheidepunkt! Oder besser gesagt, wieder an einem Scheidepunkt. Und das sollte man durchaus positiv sehen. Veränderung ist etwas Schönes, gerade sie hält die Musik am Leben. Mein Beethoven, den ich heute dirigiere, ist ein Beethoven des Moments. Da bin ich mir völlig bewusst. Er ist komplett anders als der, den ich noch vor fünfzehn Jahre dirigierte und er wird sicher ein ganz anderer sein, wenn ich ihn in fünfzehn Jahre wieder dirigiere.
Nehmen wir Beethovens 5. Symphonie, die ja wohl das meistgespielte Werk der Klassik ist. Kann man gerade hier heute immer noch Neues entdecken?
Das Publikum will neue Hörerfahrungen machen, das ist auf jeden Fall klar. Gerade bei den großen klassischen Werken des Repertoires! Und auch wir Interpreten müssen uns gerade heute immer wieder mit diesen Klassikern auseinandersetzen. Da hat z. B. der Beethoven-Biograph Schindler falsche Aussagen zu den Tempi des ersten Satzes der Fünften gemacht, worauf diese ersten markanten Takte immer relativ schnell gespielt wurden. Das war aber nicht unbedingt Beethovens Absicht. Und wenn man sich dann intensiv mit dieser Musik auseinandersetzt, dann kommt man plötzlich zu ganz anderen Ergebnissen. Weshalb ich auch zu dem Schluss gekommen bin, diese sich wiederholenden Takte langsam zu dirigieren und dass ich somit einen ganz anderen Spannungsbogen aufbauen kann. Zudem scheint es mir sehr wichtig, auch sogenannte versteckte thematische Elemente zum Vorschein zu bringen. Überhaupt bin ich der Überzeugung, dass man Beethovens Musik von drei Standpunkten neu belichten muss: vom Standpunkt des Rubato, der Tempi und der Motive.
Sie selbst haben vor vielen Jahren als Mitglied der Wiener Philharmoniker die Beethoven-Symphonien unter den verschiedensten Dirigenten gespielt. Macht dies das Finden eines eigenen Interpretationsansatzes als Dirigent schwieriger?
Am Anfang war das für mich nicht leicht. Ich hatte immer noch die Eindrücke im Kopf, die Dirigenten wie Bernstein, Karajan, Muti oder Harnoncourt hinterlassen hatten. Da sind mir dann schon manchmal Zweifel gekommen. Aber als Musiker habe ich auch gelernt, die Eigenschaften eines Dirigenten und somit sein Konzept zu erkennen. Schauen Sie, die breiten Tempi eines Dirigent wie Bernstein waren einerseits vor allem durch sein tief romantisches Empfinden und andererseits von den riesigen amerikanischen Konzertsälen geprägt, in den man einfach langsamer dirigieren musste. So war jeder Dirigent von anderen Gegebenheiten und Sichtweisen beeinflusst. Und deshalb musste ich mich persönlich und von Anfang an auch intensiver mit Beethovens Musik auseinander setzen. Im Laufe der Jahre habe ich dann einen eigenen Beethoven-Stil entwickelt. Und immer wieder beschäftige ich mich mit den Tempi. Langsame Tempi erlauben mir, klare Figuren darzustellen, schnelle Tempi bringen den notwendigen Schwung, der Beethovens Musik ausmacht. Ich muss meine Wahrheit also irgendwie dazwischen suchen.
Wie ist denn die historische Beziehung zwischen dem Pittsburgh Symphony Orchestra und den Symphonien Beethovens?
Es ist tatsächlich erstaunlich, aber die letzte Aufnahme einer Beethoven-Symphonie liegt mehr als 50 Jahre zurück und wurde von dem damaligen Chefdirigenten William Steinberg gemacht. Ähnlich verhält es sich mit Dvorak. Ich denke, damals gab es eine andere Philosophie der Schallplattenindustrie. Nur die damaligen ‘Big Five’ unter ihren Stardirigenten durften Beethoven und andere Klassiker aufnehmen. Alle anderen amerikanischen Orchester mussten sich auf das Randrepertoire beschränken. Heute ist es nicht viel anders. Außer Osmo Vänskä und seiner Einspielung aller Beethoven-Symphonien mit dem ‘Minnesota Orchestra’ sind amerikanische Beethoven-Aufnahmen ganz selten. Doch im Konzertsaal sieht es anders auch. Das amerikanische Publikum und die Musiker lechzen nach Beethoven. Und sie bringen die notwendige Neugierde mit. Und wenn man dann Musiker wie die des PSO mit auf eine Entdeckungsreise nimmt und ihnen interessante, neue Aspekte in Sachen Spiel und Interpretation zeigt, dann setzen sie sich mit Begeisterung auch dafür ein.
Wenn man als Dirigent ein Top-Orchester wie das PSO vor sich hat, dem spielerisch ja keine Grenzen anzumerken sind, im Gegenteil, läuft man nicht manchmal die Gefahr, einfach zu viel zu tun?
Ehe ich auf die Frage antworte, möchte ich vorausschicken, dass es in meinen Augen richtig ist, Beethoven in großer Besetzung aufzuführen. Einerseits schadet es der Musik nicht, denn sie ist wie gemacht für ein großes Symphonieorchester, andererseits muss man sich immer vor Augen halten, dass es zu Beethovens Zeiten keine riesigen Konzertsäle wie heute gab. Allerdings muss ich als Dirigent klare Klangvorstellungen haben, ich muss wissen was ich will. Ich muss immer bereit sein, meine eigenen Vorstellungen zu ändern.
Gibt es denn auch Werke, vor denen Sie als Dirigent Angst haben?
Grundsätzlich nein. Keine Angst, aber Respekt schon. An die Johannes-Passion von Bach und auch an seine anderen Passionen habe ich mich lange nicht herangetraut. Auch ist eine kleine Haydn-Symphonie viel schwieriger und heikler zu dirigieren, als eine Tchaikovsky-Symphonie oder eine Oper von Wagner. Warum? Tchaikovskys Symphonien sind relativ einfach gestrickt, und bei Wagner ist alles vorgegeben. Wenn man sich daran hält, kann eigentlich nicht viel passieren. Bei Haydn gibt es immer wieder offene Fragen, da wird von den Interpreten so viel Fantasie, Feingefühl und manchmal auch Frechheit verlangt, dass man als Dirigent wirklich Wagnisse eingehen muss. Auch die Musik von Johann Strauß wird stark unterschätzt. Man muss ihr mit Respekt begegnen, sonst wird es sehr schwierig, sie wirklich gut zu spielen.
Für die Europatournee 2016 haben Sie eine Orchestersuite von Richard Strauss Oper ‘Elektra’ im Gepäck, die Sie selber zusammengestellt haben. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Es hat mich zuerst einmal überrascht, dass es keine Suite von ‘Elektra’ gab. Diese Oper besitzt einen sehr symphonischen Charakter und bietet orchestral alles auf, was man für eine Suite braucht. Auch gibt es genug verwertbare Melodien, genauso wie in den anderen Strauss-Opern. Wahrscheinlich wurde ‘Elektra’ zu Strauss´ Zeiten als zu dramatisch und zu modern angesehen, so dass man ihr keine Zukunft auf der Konzertbühne zutraute. Ich habe bei meiner Bearbeitung versucht, die Geschichte der Figur Elektra darzustellen und keine Eingriffe in die Partitur zu machen. Die große Schlussszene ist nahezu identisch. Für mich ist die ‘Elektra’ die modernste Oper von Strauss überhaupt, und das muss auch hörbar gemacht werden. Denn wenn Richard Strauss so weitergemacht hätte, wäre er später sicher zu den gleichen Ergebnissen wie Arnold Schönberg gekommen.