Ein Interview von Alain Steffen
Der Schweizer Dirigent Mario Venzago hat für das Label cpo einen ganzen Bruckner-Zyklus eingespielt, und ging dabei neue Wege. Erklärungen dazu gibt er in diesem Interview.
Herr Venzago, Sie haben soeben eine neue Gesamteinspielung der Bruckner-Symphonien abgeschlossen. Was kann man nach den zahlreichen Aufnahmen der weltbesten Orchester und Dirigenten heute denn noch Neues an diesen Werken entdecken?
Alles! Durch das historisch informierte Musizieren eröffnen sich gerade bei den großen Klassikern der Musikliteratur ganz neue Aspekte und Ansatzpunkte in Sachen Interpretation. Zunächst haben wir das Repertoire verloren, wir konnten eigentlich mit den normalen Orchestern keinen Mozart, keinen Haydn, keinen Beethoven, keinen Weber, keinen Wagner mehr spielen. Es ist uns eigentlich alles weggenommen worden, denn die großen Orchester haben sich in eine Art museale Behäbigkeit gerettet. Sie konnten und können diese Werke zwar immer noch mit brillantem Klang vorstellen, interpretatorisch aber bewegen sie sich schon seit Jahrzehnten im Kreis. Es ist nichts Neues mehr passiert. Wenn man sich aber die Mühe macht, die Erkenntnisse, die uns die historische Aufführungspraxis gebracht hat, zu analysieren und sie anschließend auch anwendet, kommt man zu ganz anderen und neuen Resultaten. Und im Sinne war der ganze Bruckner ja ein ideales Fressen für mich als Dirigenten. Denn da ist ja in den letzten Jahren überhaupt nichts mehr passiert. Man hat ja eigentlich mit der Suche aufgehört, und zwar recht selbstgefällig, als Dirigenten wie Karajan die Musik Bruckners mit Klangorgien und goldenen Statements auf ein Podium hievten, das alleine die Klangpracht dieser Werke in den Mittelpunkt stellte. Und da stehen diese Symphonien noch heute. Und wehe dem, der an diesen wunderschönen Äußerlichkeiten zu rütteln beginnt.
Bedeutet das denn, dass Bruckner diesen Klang nicht unbedingt wollte?
Natürlich wollte Bruckner, dass seine Symphonien gut klingen, aber er wollte sicherlich nicht, dass man seine Musik einzig und allein auf Klangrausch reduziert. Wenn ich eine Bruckner-Partitur öffne, finde ich als Interpret eigentlich recht wenige Hinweise oder Aufforderungen. Was bedeutet, dass Bruckner dem Dirigenten durchaus eigene Verantwortung mit auf den Weg gibt und ihn nahezu bittet, sich intensiv mit der Musik auseinander zu setzen. Was aber auch bedeutet, dass man in der Interpretation viel freier sein kann, als das heute propagiert wird. Hören Sie sich einmal Gustav Mahlers eigene Klavier-Interpretation des letzten Satzes seiner vierten Symphonie an, wie frei das alles klingt. Es wird aber oft der Fehler gemacht, dass man Bruckners Musik von hinten aufrollt, und frühe Symphonien mit den gleichen Kriterien der komplexen Spätwerke angeht. Mir war es wichtig, vorne anzufangen. Mit der Nullten und mich dann nach oben hochzuarbeiten. Die 2. Symphonie klingt doch wie Schubert, da gibt es eine Zartheit, die man unbedingt herausarbeiten muss. Da gibt es ebenfalls starke Einflüsse von Mendelssohn und Schumann, also muss man diesen romantischen Gehalt, diese wunderbaren, liedhaften Stimmungen berücksichtigen. Ich bin nicht der Meinung von Nikolaus Harnoncourt, der sagt, Bruckner sei wie ein Meister vom Himmel gefallen, denn damit sagt er, dass Bruckner keine Vorgänger und keine Nachfolger gehabt hätte. In den frühen Werken hört man sehr deutlich Schubert und Mendelssohn, man hört aber auch Berlioz und man hört schon Wagner. Und in seiner 1. Symphonie rechnet Bruckner gnadenlos mit Beethoven ab. Erst danach kann er als Komponist frei werden.
Konkret, wo setzen Sie bei Ihrer Interpretation an, damit Bruckner bei Ihnen so ganz anders klingt?
Ursprünglich habe ich beim Tempo angesetzt, vor allem, was die Flexibilität des Tempos betrifft. Im Laufe der Zeit hat sich durch die strenge Periodisierung eine sehr geradlinige und neoklassische, ja neoklassizistische Leseart durchgesetzt. Diese habe ich erst mal in Frage gestellt, wie ich das übrigens auch bei Schumann mache. Und wenn man einmal von diesem riesigen Orchesterapparat mit seinem massiven Klang weg ist dann kommt man eigentlich sehr schnell zu anderen Resultaten. Die Dynamik verändert sich, auch das Relief und die Balance, denn das Klangbild erhält so eine wundervolle Tiefe, wird sehr transparent. Man hört die Holzbläser. Und auf einmal beginnt die Musik zu fließen. Man hört plötzlich, dass Bruckners Musik sehr gesanglich ist und sich an der Oper orientiert. Das ist ja auch fast Theatermusik mit religiösem Touch.
Ist dieser religiöse Aspekt tatsächlich so omnipräsent, wie das von dem gottesgläubigen Bruckner ja gerne behauptet wird?
Bruckner hat tatsächlich den Kirchenraum mitkonzipiert, was seine Religiosität natürlich unterstreicht. Aber es ist eine Religiosität im Sinne Haydns und Mozarts, also eher eine Haltung, die mit tiefer Gottesgläubigkeit eigentlich nichts zu tun hat. Mozart hat ja auch gesagt“ Wenn ich komponiere, spricht ein anderer aus mir.“ Diese Religiosität ist eine innere Haltung und verläuft auf einer ganz anderen geistigen und emotionalen Ebene. Doch leider wurde diese Haltung im Laufe der Rezeptionsgeschichte viel zu sehr romantisiert, was ja dann zu diesem in meinen Augen falschen Bruckner-Bild geführt hat, was wir heute kennen. Aber vielleicht trägt Bruckner daran auch etwas Mitschuld. Seine Religiosität hat manchmal tatsächlich den Hang zum Theatralischen und lebt von einer gewissen Naivität. Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass man sich intensiv mit seiner Musik auseinandersetzt, weil man sonst durch diese Doppelbödigkeit gerne in eine falsche Richtung geht. Um Bruckner aufzuführen, muss man die katholischen Riten kennen.
Für diese Gesamtaufnahme haben Sie verschiedene Orchester ausgewählt, von denen man viele gar nicht in Zusammenhang mit den Symphonien Bruckners bringt.
Ja, das stimmt, denn wenn man von Bruckner-Orchestern spricht, denkt man natürlich in erster Linie an das Concertgebouw, die Staatskapelle Dresden oder die Wiener und Berliner Philharmoniker. Dass wir die Aufnahme mit verschiedenen Orchestern aufgenommen haben, war in erster Linie einmal ein pragmatischer Gedanke. Wenn ich alle 10 Symphonien mit einem Orchester dirigiere, dann brauche ich aus organisatorischen Gründen zehn Jahre, also eine Symphonie im Jahr. Und das wollte ich nicht. Zehn Jahre sind eine viel zu lange Zeit. Da verändere ich mich, da verändert sich die Welt und auch die Rezeption. Ich wollte einen Bruckner machen, der unser heutiges Empfinden wiederspiegelt. Mit den verschiedenen Orchestern hat das Bruckner-Projekt knapp zwei Jahre gedauert.
Und es war auch besonders aufregend, gerade mit Orchestern zu arbeiten, für die Bruckner ein unbekanntes Feld darstellt. Schauen Sie, die ‘Northern Sinfonia’ oder die ‘Tapiola Sinfonietta’, mit denen wir die 2. respektiv die 0. und 1. Symphonie eingespielt haben, sind klassische Orchester. Für sie war Bruckner etwas ganz Neues und somit eine ungemeine Herausforderung. Das hatte natürlich den Vorteil, dass die Musiker hundertprozentig bei der Sache waren, und ihr Bestes gaben. Dann haben wir noch das Konzerthaus Berlin für die Achte, die Düsseldorfer Sinfoniker für die Fünfte, das Sinfonieorchester Basel für die 4. und 7. und das Berner Symphonieorchester, das ein wirkliches Juwel ist, für die 3., 6. und 9. Symphonie. Ich bin natürlich besonders froh, dass wir das junge und dynamische Berner Orchester, dessen Chefdirigent ich ja seit einigen Jahren bin, mit ein dieses Projekt eingebunden haben, denn es ist ein Orchester von einer unglaublichen Qualität.
Sie haben ja schon erwähnt, dass die Bruckner-Rezeption nach Karajan stagnierte. Aber welchen Interpretationsweg haben die Symphonien Bruckners im 20. Jahrhundert gemacht?
Je weiter man zurückschaut, desto bewusster wird einem, dass sich die Traditionen doch sehr verändert haben. Glücklicherweise besitzen wir heute etliche Aufnahmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dies belegen. Nehmen sie z.B. Oskar Frieds Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, dass es bei Bruckner, vor dem Pomp eine Tradition des Sprechens gab, die wir im Laufe der Jahre verloren haben. Natürlich haben wir mit Karajan auf verschiedenen Ebenen auch gewonnen. Selbst Jochum ging in seiner frühen Aufnahme mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks unwahrscheinlich frei mit der Musik Bruckners um. Da gab es Accelerandi und Crescendi, die nicht in der Partitur stehen und die dennoch richtig waren, weil Jochum seine Verantwortung als Interpret hundertprozentig ernst nahm und im Sinne des Komponisten agierte. So war es nur logisch, dass es später dann Dirigenten wie Günther Wand geben musste, die sehr textgetreu vorgingen. Aber was ist seither passiert? Celibidache hat ein sehr persönliches und hochinteressantes Statement abgegeben, allerdings hat er nicht alle Symphonien berücksichtigt. Und das ist dann schon alles. Die jungen Dirigenten von heute imitieren meistens einen ihrer illustren Vorgänger, wobei diese drei Traditionen von Karajan, Wand und Celibidache aufgenommen und immer wieder reproduziert werden. Eigentlich erstaunlich, denn überall werden neue Interpretationswege gesucht, nur Bruckner will anscheinend jeder so haben, wie er in den letzten fünf Jahrzehnten erklang. Doch Bruckner sollte endlich wieder von diesen Zwängen und Traditionen befreit werden, um wieder neu atmen zu können.
Neue Wege, neue Interpretationsansätze: Welche Rollen spielen denn für Sie in dieser Hinsicht die verschiedenen Fassungen der Bruckner-Symphonien?
Ich bin Interpret, kein Musikwissenschaftler. Deshalb arbeite ich im Prinzip mit den letzten Fassungen. Das sind die letzten Äußerungen des Komponisten, es ist das letzte Mal, wo er sich mit seinem Werk auseinandergesetzt hat; somit besitzen diese Fassungen für mich die finale Gültigkeit. Eine Ausnahme bei meiner Einspielung macht allerdings die 1. Symphonie, freilich eher aus praktischen Gründen. Mit einem kleinen Orchester wie der Tapiola Sinfonietta hätte ich die spätere Fassung, die ja nach der 8. Symphonie entstanden ist und einen weit größeren Orchesterapparat verlangt, gar nicht aufführen können.
Aber verliert gerade die kleine Erste an Authentizität, wenn Sie, sagen wir einmal so, orchestral nachgerüstet wird und so eher dem späten als dem frühen Bruckner entspricht?
Das ist richtig und führt zu interpretatorischen Stellungnahmen. Der Dirigent muss sich permanent bewusst sein, dass er eine frühe Symphonie mit dem Kleid einer späteren spielt und seine Interpretation demnach ausrichten. Da läuft er natürlich Gefahr, die Erste quasi zu überinterpretieren. Ich glaube, man darf auch generell nicht den Fehler machen, eine zeitlos gültige Interpretation anstreben zu wollen. CD-Einspielungen wie auch Konzerte sind Momentaufnahmen, sind Schnappschüsse eines musikalischen Verständnisses. Es sind Versuche, Sichtweisen, die man entweder teilt oder nicht, die abhängig sind vom Zeitgeschmack, von guten und schlechten Traditionen oder ganz einfach der Tagesform. Musik ist flüchtig und niemals wiederholbar.