Herr Kirschnereit, Ihre letzte CD heißt Beethoven Unknown (Pizzicato-Rezension) und stellt selten gespielte Werke des Meisters vor. Gibt es denn wirklich noch unbekannte Stücke von Beethoven?
Also, der Titel ist schon etwas provokant und muss auch relativ betrachtet werden. Alle Werke Beethovens sind verlegt, es gibt keine verstaubte Partitur mehr auf irgendeinem Speicher oder in irgendeinem Archiv. Aber es gibt einige Werke, die sehr selten oder überhaupt nicht gespielt resp. aufgenommen werden, es sei denn im Rahmen einer wirklich kompletten Integrale, wie sie bei Naxos erschienen ist. Die Werke, die ich hier eingespielt habe, waren mir und dürften auch den meisten meiner Kollegen unbekannt sein.
Wie sind sie denn bei der Auswahl vorgegangen?
Wie ich schon gesagt habe, die Werke sind alle verlegt und zwar beim Henle Verlag und der Wiener Urtext Edition. Ich habe mir überlegt, wie ich vorgehen sollte, denn das, was ich beim Recherchieren entdeckt habe, war hochinteressant. Gerade in diesen unbekannten Werken entdeckt man Beethoven nicht nur als Komponisten, sondern vor allem als Menschen. Er zeigt sich hier sehr persönlich, unterhaltsam, ja alltäglich, aber auch sehr ergreifend, wie im Präludium f-Moll, das zu Beginn des Verlustes seines Gehörs entstand und sehr von Bach inspiriert ist. Wenn man diese Stücke hört, lernt man neue Aspekte und vor allemeine Leichtigkeit kennen, die man Beethoven sonst nicht zugetraut hätte. Ich habe mich dann entschlossen, größtenteils chronologisch vorzugehen und somit ein musikalisches Tagebuch zu erstellen, das zudem alle Gattungen berücksichtigen sollte, die Beethoven in seinem pianistischen Schaffen verwendet hat, also Sonate, Tanz, Variation, usw.. Alle Werke, die ich aufgenommen habe, umspannen die Lebensperiode zwischen 1782, mit dem Rondo in C-Dur, und 1825, mit dem Klavierstück in g-Moll. Als Hörer kann man so auch die kompositorische Entwicklung Beethovens mitverfolgen.
Ist es für einen Interpreten schwierig, gerade in solchen Miniaturen – die Stücke sind ja meist von einer sehr kurzen Dauer – eine Interpretation anzubieten, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt?
Beethoven war ein Meister der großen Form. Aber nicht nur. In seinem Zyklus von Bagatellen beispielsweise, beweist er seine Fähigkeit, in wenigen Momenten eine ganze Welt zu erschaffen. Die große Form verlangt einen Bogen und vor allem eine gewisse Spannung, die gehalten werden muss. Die kleine Form dagegen ist bei Beethoven sehr spontan, überraschend, frei und weniger streng und ernst. Es ist durchaus eine lustvolle Musik, die man genießen darf.
Wie geht der Pianist Matthias Kirschnereit bei solch unbekannten Werken vor? Vorauf achten Sie besonders? Auf Technik? Auf Psychologie? Auf Klang?
Für mich gehören diese Aspekte, und noch andere, wie Texttreue oder Dynamik, immer zusammen und sind nicht zu trennen. Die Kunst der Interpretation, und das macht die Sache so spannend, besteht darin, all diese verschiedenen Aspekte in Einklang und in eine natürliche Balance zu bringen. Ich stelle mir die Frage: « Was sagt mir das Werk? » Wie komme ich möglichst nahe an seine Wahrhaftigkeit? Ich bin ein Pianist, der eigentlich sehr klangsinnlich spielt und auch immer den Ausdruck sucht, ohne aber den Notentext zu vergessen. Ich selber stelle eine saubere Technik, leuchtende Farben und einen obertonreichen Klang in den Mittelpunkt und erarbeite mir das Werk dann von dieser Basis aus.
Bis wohin geht denn die Freiheit beim Interpretieren eines Notentextes?
Im Laufe der Jahre habe ich einen inneren Kompass bekommen, auf den ich höre. Er sagt mir ob ich zu viel oder zu wenig mache. Wenn mein Ausdruckswille sich mit den Absichten des Komponisten deckt, bin ich eigentlich zufrieden. Man muss sich eine gewisse Spontanität erhalten, ohne aber willkürlich zu werden. Diese Freiheit, die ich mir zugestehe, erlaubt es mir dann, immer Neues zu entdecken. Obwohl Beethoven immer alles ganz genau notiert hat, erlaubt es seine Musik dem Interpreten, sich frei zu bewegen. Das macht u.a. auch das Genie Beethovens aus. Beethoven war, wie Bach und Mozart, ein großer Improvisator, aber das ist kein Freifahrtschein für Willkür und ichbezogenes Virtuosentum.
Was können Sie über die allgemeine Beethovenrezeption der letzten Jahrzehnte sagen?
Beethoven ist ein Komponist, der persönlichkeitsstarke Interpreten braucht, um den Geist seiner Musik wiederzugeben. Und die hat es eigentlich immer gegeben. Musik existiert nur im Moment, sie ist somit an die Zeit gebunden, und alles verändert sich im Laufe der Zeit. Bei Beethoven bleiben einige wichtige Aspekte immer im Fokus: Stärke, Klarheit, Vitalität und Strenge. In dem Sinne gibt es dann eigentlich nicht soviele Möglichkeiten. Eine große und wichtige Veränderung kam mit der historisch informierten Aufführungspraxis, wo die Sorgfalt der klanglichen Umsetzung die Karajan-Ära mit ihrer ganz anders gerichteten Klangentfaltung im Sinne eines klangsinnlichen Erlebens ablöste. Aber eigentlich ist die stilistische Ausrichtung sekundär, sie ist immer von ihrer Zeit abhängig. Schnabel, Brendel, Richter, Gulda, Schiff, Pollini sie alle waren oder sind persönlichkeitsstarke, individuelle und großartige Beethoven-Interpreten, allerdings ist jeder von ihnen ein Kind seiner Zeit. Oder Arrau, dessen Spiel ein Musterbeispiel für Balance und Geist, Emotion und Struktur war. Die Musik und ihre Interpreten sind in ständiger Bewegung, und das ist auch gut so. Ich bin davon überzeugt, dass Beethoven in 250 Jahren genau so populär sein wird wie heute. Und gerade heute, in unserer Zeit der Verrohung der Gesellschaft, ist Beethoven ein kraftspendender Fels in der Brandung.