Maestro, was bedeutet Musik für Sie?
Musik ist nicht nur wichtig für mich, unter allen Gesichtspunkten, Musik ist ganz einfach alles für mich: meine große Liebe, mein Leben, meine Existenz, mein Beruf. Im Rückblick bedeutet sie sogar noch viel mehr, weil ich ja zu einem gewissen Zeitpunkt ein Exilant war. Als ich 1938 aus Deutschland flüchtete, war quasi von einem Tag auf den anderen mein ganzes Umfeld verändert. Die meisten Leute haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, den Ort verlassen zu müssen, an dem man geboren wurde, wo man aufgewachsen ist, wo einem alles vertraut ist, um dann in ein Land zu kommen, wo andere Gebräuche vorherrschen und eine Sprache gesprochen wird, die man nicht kennt. Das einzige, das sich nicht verändert hatte, war die Musik. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich nach meiner Ankunft in Israel Probleme hatte, zu essen, und daher immer mehr an Gewicht verlor. Das einzige, was mich am Leben erhielt, war die Musik, mein Begleiter in guten wie in schlechten Zeiten… Sie war die Luft, die atmete, die Gedanken, die ich führte, die Emotionen, die ich hatte. Vor allem die Emotionen waren wichtig, denn Musik ist die Sprache des Gefühls. Niemand hat das besser verstanden als Bach, Beethoven, Mozart, Schumann, Brahms….diese Emotionen sind es, die das Leben so sehr bereichern und letztlich lebenswert machen.
Welche Ereignisse in Ihrem langen Leben waren für Sie wichtig und unvergesslich?
Unvergesslich waren die Begegnungen mit meinen verschiedenen Lehrern. Sehr wichtig war der Preis, den ich 1946 beim Debussy-Wettbewerb in San Francisco gewann. Mein Lehrer hatte mich nicht dorthin geschickt, um zu gewinnen, sondern nur um herauszufinden, ob ich gut genug war für eine Konzertkarriere. Dass mir die Jury unter dem Vorsitz von Darius Milhaud gleich den Ersten Preis gab, war überwältigend.
Sehr wichtig war meine Begegnung mit dem damals bedeutendsten Manager in den USA, Arthur Judson, dem Begründer des ‘Columbia Broadcasting System’ (CBS), der mir einen langfristigen Vertrag gab. Er schickte mich zu Eugene Ormandy, um vorzuspielen, mit dem Resultat, dass mich der berühmte Dirigent für ein Konzert mit dem Philadelphia Orchestra engagierte. Es war mein Debüt-Konzert in den Vereinigten Staaten. Ich spielte das Schumann-Konzert und bekam sofort einen Vertrag für vier weitere Konzerte in den darauffolgenden vier Saisons. Es war das zweite Mal in der Geschichte des Orchesters, dass ein Solist einen solchen Vertrag erhielt.
Wichtig war natürlich auch die Gründung des Beaux Arts Trio. Und das kam eigentlich fast zufällig zustande. Ich machte damals jede Menge an Aufnahmen für MGM und wollte auch die Mozart-Trios einspielen. Mein Produzent sagte: « Okay, Suchen Sie sich zwei Leute, und dann machen wir das. » Ich lebte in einem Aparthotel in New York, wo auch der Pultführer der Zweiten Geigen des NBC-Orchesters wohnte. Er riet mir, mit Daniel Guilet Kontakt aufzunehmen, dem Konzertmeister des NBC Symphony. Ich traf ihn im Anschluss an eine Probe unter Toscanini, und er war bereit mitzumachen. Kurz darauf traf ich Bernard Greenhouse, einen Schüler von Pablo Casals, und wir begannen zu proben. Dann bot sich uns die Chance, für ein anderes Trio in Tanglewood einzuspringen, am 13. Juli 1955, wo wir drei Beethoven-Trios spielten. Der Erfolg war gewaltig. Die Verträge flogen uns förmlich zu, und statt die Mozart-Trios aufzunehmen, waren wir für 70 Konzerte verpflichtet. Und es nahm nie ab.
Dann bot man mir an, Artist in Residence mit Unterrichtsverpflichtungen an der Indiana University zu werden. Ich lehnte zunächst ab, ließ mich dann aber doch überreden. Ich akzeptierte unter der Bedingung, die Sache ein Semester lang probieren zu dürfen. Ich probierte – das liegt jetzt 55 Jahre zurück – und ich bin heute immer noch dort und unterrichte. Ich liebe es, zu unterrichten, und meine Studenten kommen aus der ganzen Welt. Sie sind wie meine Kinder und der Stolz meines Lebens.
Und ein weiterer sehr wichtiger Moment in meinem Leben schließlich war die Verleihung des Liftetime Achievement Award durch die Jury der International Classical Music Awards in Tampere. Aber ich hatte von vorneherein gesagt, ich würde den Preis nur annehmen, wenn er nicht bedeuten sollte, ich sei damit am Ende meiner Karriere angekommen und müsse aufhören zu arbeiten. Ich will nicht aufhören! Ich bin glücklich, dass Auftritte für mich immer noch sehr wichtig sind, nicht um wunderbare Kritiken zu bekommen, auch wenn ich diese bevorzuge, und bestimmt nicht, um Geld damit zu verdienen: Meine Motivation ist, meinem Leben einen Sinn zu geben. Das sind die Höhepunkte, einige nur, denn ich habe Anderes, ebenfalls Wichtiges nicht erwähnt, zum Beispiel meine Heirat – ich bin seit 65 Jahren verheiratet und liebe meine Frau wie am ersten Tag -, die Geburt meiner Kinder…
Im Laufe Ihrer langen Karriere hat sich die Musikwelt ja sehr verändert, teils zum Guten, teils zum Schlechten. Was hat sie unter diesem Aspekt am meisten beeindruckt?
Positiv ist, dass wir heute ein weitaus größeres Publikum haben als am Beginn meiner Karriere. Radio und Fernsehen erlauben es uns, viele Millionen Menschen zu erreichen. Es gibt viele neue Konzertsäle, wir bespielen neue Territorien, ich denke an China, an Indien…
Ich bedauere, dass in den Familien nicht mehr so viel Musik gemacht wird wie früher. Ich bedauere auch, dass reine Public Relations Arbeit eine dominierende Rolle spielt. Wir hören manchmal großartige Musiker und manchmal weniger gute Musiker, die aber den gleichen oder sogar noch mehr Erfolg haben, weil das Publikum nicht mehr die Anforderungen an die Künstler stellt wie früher, weil das Erscheinungsbild eine größere Rolle spielt als es die Inhalte tun, die tiefen Emotionen, die in der Musik enthalten sind.
Wie verhindern Sie eigentlich, dass die Emotionen nie Überhand nehmen und Ihr Spiel kontrollieren?
Da liegt der Unterschied zwischen einem Amateur und einem professionellen Musiker. Der Amateur kann sich seinen Emotionen voll hingeben. Emotionen sind frei. Der Amateur findet sie selbst dort, wo ich, in dem was geschrieben steht, keine sehe. Der professionelle Musiker muss zusehen, dass die Emotionen zurecht geschnitten werden wie ein Baum, sodass man die Kontrolle darüber behält und sie so zum Ausdruck kommen, dass jeder sie verstehen kann.
Nun ist ja bei Mozart zum Beispiel der Ausdruck sehr oft in größte Einfachheit eingebettet…
Das was Sie ‘einfach’ nennen, ist das, was Alt und Jung bei Mozart soviel Freude macht. Eine Zeitlang wurden die Mozart-Konzerte von vielen Pianisten gemieden. Der große Arthur Schnabel meinte, das rühre daher, dass viele Musikstudenten glaubten, Mozart sei zu einfach für sie. Dabei wisse jeder erfahrene Musiker, dass es sehr schwierig sei, ein Mozart-Konzert zu spielen. Die Einfachheit ist nämlich im Grunde Reinheit.
Wie erreicht man als junger Pianist eine solche Reinheit?
Für junge Pianisten ist das nicht so leicht, denn sie wollen auch etwas von sich selbst in die Musik hineinlegen. Der Junge fragt sich, was ein solches Stück ihm selbst bringen kann. Ich hingegen frage: Was kann ich für die Musik tun? Wie kann ich ihr besser dienen? Ein Mozart-Konzert ist jedes Mal eine Herausforderung, wenn Sie es spielen, und das ist das Schwierige daran. Und wenn Sie es dann aufs neue bezwungen haben – so wie ein Bergsteiger, der auf dem Gipfel des Mount Everest angekommen ist – dann ist das immer wieder ein großes Glück.
Was bringt Ihnen dabei mehr, die Herausforderung oder das Ergebnis?
Die Herausforderung, eine solche Musik zu spielen ist etwas sehr Privates und Persönliches, aber das Einzige, was am Ende zählt, ist das Resultat. Und glauben Sie mir, auch die größten Musiker stehen und standen vor solchen Herausforderungen. Heifetz, der wohl perfekteste Musiker, den es je gab, musste kämpfen, Horowitz musste kämpfen… Es gibt einige Ausnahmen, Rubinstein etwa, der von Natur aus ganz wunderbar spielte und dafür nicht einmal besonders viel zu üben brauchte… Er hatte ein sehr natürliches Verhältnis mit der Musik.
Kommen wir noch einmal auf das Beaux Arts Trio zu sprechen. Woher kam der Name?
Der Name hat keine besondere Bedeutung und entstand rein zufällig, eigentlich wie ein Unfall. Guilet wollte unser Trio ‘Guilet Trio’ nennen, aber damit waren Greenhouse und ich nicht einverstanden. Unser Management akzeptierte die Bezeichnung ‘Guilet Greenhouse Pressler Trio’ nicht, der Name sei zu lang und umständlich. Dann sagte ich: Wir haben einen Franzosen unter uns, warum nennen wir uns nicht Beaux Arts Trio? Gesagt, getan. Dass es einmal ein berühmter Name werden würde, das ahnte damals keiner von uns. Das Trio sollte ja auch nicht lange bestehen, eigentlich nur bis zum Ende unserer Aufnahme der Mozart-Trios. Doch die haben wir damals gar nicht aufgenommen! Unsere erste Aufnahme enthielt Werke von Haydn, Mendelssohn, Ravel und Fauré. Und als wir viel später die Mozart-Trios schließlich doch einspielten, war ich von den Interpretationen gar nicht überzeugt. Ich wollte sie sogar von Philips zurückkaufen. Beim Label jedoch sagte man mir: « Zu spät, sie sind nicht nur bereits veröffentlicht, sondern sie sind auch ein großer Erfolg ». Aber das ist nun mal so. Selbstkritik ist ein Teil von mir, und sie verhindert manchmal, dass ich das Gute erkenne, was ich getan habe.
Was war Ihr Geheimrezept, um das Beaux Arts Trio so lange, während 55 Jahren, in verschiedenen Zusammensetzungen zu managen?
Das Geheimnis war wohl die Stärke der ersten Formation. Ich habe von niemandem so viel gelernt und wurde von niemandem so sehr beeinflusst wie von Guilet. Er war ein großartiger Musiker. Aber er war nicht der netteste Mensch, um zu proben und zu arbeiten. Mit ihm zu arbeiten, bedeutete Blut, Schweiß und Tränen.
Was ist das Mysterium des Trio-Spiels?
Das Geheimnis liegt in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn Sie wirklich Kammermusik machen wollen, müssen Sie das Gefühl der beiden anderen ansprechen. Ein falscher Akzent kann eine Beleidigung sein, vergleichbar mit einem falschen Wort in einer Diskussion. Selbstverständlich wird diskutiert, selbstverständlich werden Argumente ausgetauscht, aber das Wichtigste ist, dass dabei niemand den Eindruck hat, es fehle an gegenseitigem Respekt. Und glauben Sie mir, manchmal können selbst Kleinigkeiten zu Missstimmungen führen, und das darf es nicht geben. Ohne Respekt ist keine Beziehung möglich.
Sie haben gesagt, wie gern Sie unterrichten. Stellen Sie auch im Unterricht eine Veränderung fest?
Ich kann meine Studenten auswählen und nehme einen Schüler erst an, wenn ich mit ihm gesprochen habe, wenn ich weiß, wie er sich selbst sieht, wie er das Leben sieht. Und ich finde immer wieder genau die Werte, die auch die meinigen waren: Liebe zur Musik, Bereitschaft zur Selbstopferung, Bereitschaft, lange und noch länger zu üben und darin eine Genugtuung zu finden, trotz der Anforderung, trotz der Einsamkeit, in der man dabei gerät. Solche Leute finde ich und ich habe Vertrauen zu ihnen. Es gibt Lehrer, die zufrieden sind, wenn die Schüler technisch in Ordnung sind. Ich bin damit nicht zufrieden. Wenn man das Klavier technisch erlernt hat, muss man es auch seelisch erlernen. Und das jemandem beizubringen, ist nicht einfach. Wie soll man jemanden erklären, wie tief er in die Musik eindringen soll? Wie können Sie jemandem anderen etwas erklären, für das Sie für sich selber keine Erklärung haben. Das ist eine echte Herausforderung.