Michael Barenboim, Sie sind in einer bedeutenden Musikerfamilie aufgewachsen, in einem Umfeld mithin, das aufgeladen und geprägt war von Musik. Dem kann man sich nicht entziehen. Wie haben Sie Ihre Kindheit und Jugend vor diesem Hintergrund wahrgenommen?
Die Tatsache, von Kindheit an ständig von Musik, von Gesprächen über Musik umgeben zu sein, hinterlässt ohne Frage tiefe Spuren. Dazu gehört auch, dass man sich ein Leben ohne Musik einfach nicht vorstellen kann. Die Frage nach einem Leben abseits von Musik, die kommt in einem solchen Umfeld erst gar nicht auf. Das ist zweifellos eine sehr außergewöhnliche, auch privilegierte Situation.
So eine Totalität, eine Überpräsenz von Musik, die könnten gegebenenfalls auch Zweifel genährt, Anlass zu Flucht oder Opposition gegeben haben, zumindest wären Überlegungen, etwas ganz anderes zu machen, nicht auszuschließen gewesen.
Zweifel sind immer möglich und erlaubt. Man kann und sollte solche Gegebenheiten allerdings stets aus unterschiedlichen Perspektiven reflektieren. Am Ende des Tages stand in meinem Fall immer die innere Notwendigkeit, Musik zu machen. Das war dominanter als jeder Zweifel. Andernfalls hätte ich mich von der Musik abgewandt. Wenn man sich für ein Künstler-Dasein entscheidet, muss man voll bei der Sache sein. Man muss sicher sein. Andernfalls sind einem andere immer voraus. Dennoch: Ganz ohne Zweifel geht es natürlich nicht. Die sind existentiell, um sich weiterzuentwickeln.
Die Musikerlaufbahn schien vorgezeichnet zu sein. Erinnern Sie eine Urszene, einen bestimmten Moment, eine besondere Erfahrung, die den Entschluss hat endgültig reifen lassen?
Definitiv nicht! Musik hat mich, wie gesagt, ständig umgeben. Es gab also keinen spezifischen Moment solcher Erkenntnis, es war eher ein logischer, langjähriger Prozess. Ich bin gewissermaßen in diese Berufung zum Musiker hineingewachsen. Um nicht nur mit Musik beschäftigt zu sein, habe ich später in Paris allerdings auch Philosophie studiert. Das war jedoch keineswegs als Maßnahme GEGEN die Musik zu verstehen, eher als Suche nach ergänzender Erfahrung. Ich wollte dazulernen, keine hochspezialisierte Maschine werden, für die nur die Geige existiert.
Ihre Eltern waren auf ganz natürliche Weise künstlerischer Fixpunkt. Im Hause Barenboim verkehrten allerdings auch andere bedeutende Musiker aus aller Welt. Welche Begegnungen haben Sie besonders berührt?
Insbesondere der Austausch mit Pierre Boulez, den mein Vater seit den 60er Jahren kennt. Boulez hat mich wesentlich in meinem Denken geprägt. Eindrücklich waren auch die Besuche des Geigers Pinchas Zukerman.
In Ihrer Familie galt Musik immer auch als humanistische Botschaft…
Musik ist zu allererst Kunst. Jede Kunstform allerdings ist integraler Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Und sie ist Reflexion, bisweilen auch Kritik dieser Gesellschaft. Das war immer so. Andererseits präsentieren 90 Prozent der allgemein aufgeführten Werke Historie. Da findet also keine Reibung mit dem Publikum statt wie etwa bei Aufführung zeitgenössischen Materials. Musik war immer, auch in früheren Jahrhunderten, mehr als schöner Klang. Sie war Abbild und zugleich Auseinandersetzung mit ihrer Epoche. In den Meisterwerken der Musikgeschichte spiegelt sich immer auch Menschheit. Musik ist immer aufgeladen. Sie fungiert als existentielle Projektionsfläche. Man sollte sie also nicht einfach beiseite legen.
Nicht nur im familiären Umfeld, eigentlich überall ist man in diesen Tagen umgeben von Musik, von einnehmenden Exegesen. Alle Interpreten suchen ihren Platz, ihre Bestätigung in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Szene. Wie findet man in diesem Feld als jüngerer Musiker zu konsistenter künstlerischer Identität?
Identität HAT man. Den meisten Musikern geht es wohl eher darum, Produkte zu schaffen, die sich und sie von anderen abgrenzen. Zur Identität gehört, genau zu wissen, WAS man, WARUM man und warum man WIE spielt, warum man überhaupt spielt. Wenn man sich selbst diese Fragen aufrichtig zu beantworten vermag, dann kommt man künstlerischer Identität nahe. Abgesehen davon sollten natürlich auch die Ergebnisse, für die man steht, auf dem Markt reüssieren können.
Der Musikmarkt, die globale Klassikszene werden zunehmend bestimmt von Metafaktoren wie einschlägigen Diskursen, Marketing und kommerziellen Aspekten. Wie reagieren Sie auf diese Anforderung?
Leider ist künstlerische Qualität im heutigen Markt nur eine Facette unter vielen. Nicht die beste künstlerische Leistung wird auch am besten verkauft. Ganz im Gegenteil. Gerade deshalb ist es, um es pathetisch zu formulieren, so wichtig, dass man sich wirklich auf die Kunst konzentriert und sich nicht von außermusikalischen Faktoren zerstreuen lässt.
Als Musiker, insbesondere als Streicher definiert man sich im besten Fall über einen eigenen, wiedererkennbaren Klang. Auch damit generiert man Alleinstellungsmerkmale. Wie steht es um den spezifischen Barenboim-Klang?
In Bezug auf den Klang gibt es Musiker, deren Vorstellungen ausschließlich vom Repertoire bestimmt werden. Dem gegenüber stehen die, die den Klang eher aus der eigenen Gedankenwelt heraus entwickeln. Beides spiegelt Grenz- bzw. Extrempositionen. Ich bevorzuge die Mitte zwischen diesen Auffassungen, wobei die Priorität natürlich wirklich dem Notentext und der Intention des Komponisten gelten sollte. Zum Musizieren gehört aber ebenso ein gewisses Maß an Subjektivität. Der Interpret braucht eigene Gestaltungsräume, um Originäres, zumal Magisches entstehen lassen zu können. Aber wie gesagt, das Werk und die Ideen des Komponisten haben immer Vorrang.
Mit Blick auf die künstlerischen Resultate: Bevorzugen Sie eher Bühne oder Studio-Arbeit?
Wenn es gut läuft, ist die Live-Situation im Konzertsaal natürlich nicht zu überbieten. Da gibt es keine Alternative. Man darf die Rolle des Publikums beim Musizieren nicht unterschätzen, denn die Leute wirken beim kreativen Prozess auf ihre Weise immer mit. Im besten Sinne. Das Publikum ist Teil künstlerischen Schaffens. Was nicht bedeutet, dass ich die bisweilen skrupulöse Arbeit im Studio missen möchte. Perfektion streben schließlich alle an. Dennoch leben Musiker natürlich insbesondere für die Bühne. Genau dafür haben wir große Teile unserer Kindheit geopfert, stundenlang geübt. Die Bühne war immer das Ziel.
Glücklicher Bühnen-Erfahrung gegenüber steht wesentlich die Frage nach der Programmatik. Der gängige Konzertbetrieb wird weitgehend beherrscht von Repertoire-Standards, während der globale CD-Markt auch Nischenrepertoire integriert…
…optimale Programmatik ist dann immer gewährleistet, wenn die aufgeführten oder aufgenommenen Werke miteinander in einem sinnvollen, nachvollziehbaren Spannungsfeld stehen. Das Hör-Erleben der einzelnen Werke sollte korrespondieren. Nichts gegen den kanonischen Werke-Kanon, den wir im Konzert immer brauchen werden. Aber warum nicht auch weniger Bekanntes und Zeitgenössisches integrieren. Das hilft dem Publikum ebenso wie den Musikern.
Ihrer Konzert-Agenda ist nicht zu entnehmen, in welchem Segment, in welchem Kontext Sie bevorzugt musizieren: Als Solist, als Konzert-Solist oder Kammermusiker?
Wenn ich die Wahl habe, bevorzuge ich Diversität. Das hält einen als Musiker beweglich. Man lernt in jeder Konstellation für die Rolle in einer anderen. Das befruchtet sich gegenseitig und wirkt inspirierend. Nehmen wir etwa das Brahms-Violinkonzert: Das gelingt einem fraglos besser, wenn man auch Brahms’ Kammermusik kennt.
Sie haben sich immer auch für die Aufführung zeitgenössischer Musik engagiert…
…ein enorm wichtiges Repertoirefeld für mich. Man darf nicht nur in die Vergangenheit schauen, man muss auch Aktuelles reflektieren. Kunst und Kunstausübung müssen lebendig bleiben. Gewiss wird die Geschichte immer notwendiges Korrektiv bleiben, aber wo kämen wir hin, wenn wir uns nicht mit Gegenwärtigem auseinandersetzten.
Ihre Debüt-CD mit Violin-Solowerken von Bach, Bartok und Boulez verfolgt ein eher avanciertes programmatisches Konzept. Welche Intention steht hinter dem Projekt?
Im Konzert ebenso wie auf CD sollten die einzelnen Werke immer einen Bezug zueinander haben. Sie sollten korrespondieren, nicht wie unabhängige Atome nebeneinander existieren. Im Kontext nimmt man Stücke immer anders wahr. Mit einer unkonventionellen Programmatik kann man also durchaus Erkenntnis stiften, mit Sicherheit aber spannende Hörerlebnisse. Bei meiner CD sind die Verbindungslinien zwischen den Werken relativ evident. Wir wissen beispielsweise, dass die Bartók-Sonate eine Hommage an Bachs Violin-Solo-Sonaten ist, mehr noch: Bartoks Werk wurde unmittelbar von Bach inspiriert. Dennoch schuf er mit seinem Werk einen ureigenen Klangkosmos. Was Boulez’ ‘Anthèmes’ angeht: Der Franzose gehörte ja als Dirigent immer zu den profiliertesten Bartók-Interpreten der Szene. Die von ihm komponierten Werke für Solo-Violine überzeugen durch enorme Transparenz und klare strukturelle Gliederung. Darin wiederum finden wir die Verbindung zu Bach.
Pierre Boulez wusste stets nicht nur als Dirigent und Komponist, sondern auch als Publizist für sich einzunehmen. Sie haben mehrfach mit ihm gearbeitet. Was hat er Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Tatsächlich habe ich Pierre Boulez über meine Eltern kennengelernt. Ich konnte viel mit ihm sprechen, Einiges mit ihm einstudieren, beispielsweise vorliegende ‘Anthèmes’. Sein Augenmerk als Interpret galt stets zuerst dem Notentext. Der sei, betonte er, Basis für authentisches Musizieren, mehr als die Pirouetten eines Künstler-Egos. Darüber hinaus lehrte er mich, das Gespür für eine Partitur zu entwickeln, ohne das interpretatorisches Gestalten nicht möglich ist. Für Boulez waren Dirigieren, Komponieren und Nachdenken über Musik immer untrennbare Einheit. Diese Wahrheit begleitet mich bis heute.