Das Talent wurde Michael Gielen quasi in die Wiege gelegt. Er zählt bedeutende Künstler zu seinen nahen Verwandten: Sein Vater war ein namhafter Regisseur und Direktor des Wiener Burgtheaters; sein Onkel, der Pianist und Komponist Eduard Steuermann, war ein Schüler Busonis und Schönbergs.
1940 emigrierte er mit seiner Familie nach Argentinien, studierte in Buenos Aires Philosophie, Klavier, Theorie und Komposition. Seine Karriere begann er als Korrepetitor am Teatro Colón. 1949 brachte er, noch in Buenos Aires, das gesamte Klavierwerk von Arnold Schönberg zur Aufführung.
Nach Europa zurückgekehrt, wurde er 1950 Korrepetitor und Dirigent an der Wiener Staatsoper. Von dieser Zeit an entfaltete sich mehr und mehr seine Tätigkeit als Konzertdirigent.
1960 wurde Michael Gielen zum musikalischen Leiter der Königlichen Oper in Stockholm und 1968 zum Chefdirigent des Belgischen Nationalorchesters berufen. Später leitete er bis zum Jahr 1975 die Niederländische Oper. Er hat als Gast die Mehrzahl der bedeutenden Orchester Europas dirigiert; von 1978 bis 1981 war er ‘Chief Guest Conductor’ des BBC Symphony Orchestra in London.
Auslandstourneen führten ihn nach Australien, Japan und in die Vereinigten Staaten, wo er mit Beginn der Saison 1980/81 die Position des ‘Music Director’ des ‘Cincinnati Symphony Orchestra’ übernahm. Ab 1977 war Michael Gielen Direktor der Frankfurter Oper und Generalmusikdirektor der Stadt Frankfurt. Michael Gielen, der Frankfurt 1987 verließ, bezeichnet seine Frankfurter Zeit « ohne Zweifel als die wichtigste in meinem Leben ».
Mit Beginn der Spielzeit 1986/87 übernahm Gielen die Stelle des Chefdirigenten des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Innerhalb eines breiten Repertoires, das sich von Bach bis zur zeitgenössischen Avantgarde erstreckt, setzte er Schwerpunkte bei zyklischen Aufführungen und Einspielungen der Sinfonien von Beethoven und Mahler.
Als Komponist hat Michael Gielen zahlreiche Werke in vielen Gattungen geschrieben. 2014 gab er aus gesundheitlichen Gründen das Dirigieren auf. Insbesondere die gravierende Verschlechterung seines Sehvermögens habe ihn zu dieser Entscheidung gebracht, teilte der Südwestrundfunk (SWR) mit.
Nachfolgend kann der interessierte Leser noch Auszüge aus einem im Jahr 2005 entstandenen Interview von Remy Franck mit Michael Gielen lesen.
Herr Professor Gielen, was bedeutet Ihnen Beethoven?
In der Geschichte meiner Entwicklung als Dirigent ist Beethoven der entscheidende Komponist gewesen, weil er für mich die größten interpretatorischen Probleme aufweist. Wissen Sie, ich bin von der modernen Musik gekommen und habe mich dann als Dirigent rückwärts entwickelt über Mahler, Schumann und Schubert bis zu Beethoven, Mozart und Bach. Ich bin im Übrigen sehr spät zu Beethoven gekommen. Meine Beethovensinfonie dirigierte ich mit 30 Jahren, und das ist schon ungewöhnlich! Ich habe überhaupt sehr spät angefangen zu dirigieren, mit 25 zum ersten Mal, und dann war ich auch schon ein relativ reifer Mensch, als die Auseinandersetzung mit Beethoven anfing. Das Tempoproblem war sehr wichtig für mich. Gott sei Dank gibt es von Beethoven selber eine ganze Menge an Metronomangaben. Ich hielt mich ferner an die Vorgaben eines ganz wichtigen Aufsatzes von Rudolf Kolisch, dem Leiter des Kolisch-Quartetts, über Tempo und Charakter in Beethovens Musik, der 1943 in der amerikanischen Fachzeitschrift ‘The Musical Quarterly’ erschienen war, was sozusagen die erste Information für mich über Interpretationen von Beethoven war. Als dieses Tempoproblem einmal abgehandelt war, musste ich mich damit abfinden, dass heutzutage die Symphonien mit viel größerer Streicherbesetzung gespielt werden, als damals und, dass die Holzbläser in einer gefährdeten Situation sind, wenn sie gegen 16 Erste Geigen spielen. Zur Zeit Beethovens waren es vielleicht sechs oder acht. 10 muss schon ein großer Luxus gewesen sein. Also das Gleichgewicht innerhalb des Orchesters ist jeweils neu herzustellen, wenn man in unseren modernen großen Sälen mit großem Streicherapparat spielt. Das ist ein Problem, das sich bei Brahms nicht stellt, weil Brahms schon große Besetzungen kannte, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es schon die großen Sinfonieorchester und die großen Säle, während z.B. die Eroica, die dritte Symphonie von Beethoven im Palais Lobkowitz in Wien uraufgeführt wurde. Dieser Saal ist ganz winzig und mehr als sechs, oder vielleicht auch nur vier Erste Geigen können da nicht gespielt haben, weil klein Platz auf der Bühne war. Aus all dem ist aber auch zu schlussfolgern, dass sich die Musik mit der Geschichte verändert, dass neue Generationen die alten Stücke anders sehen und anders hören und sich anders damit auseinander setzen. Und gerade deshalb bin ich überhaupt kein Freund von historisierenden Aufführungen, sondern versuche das, was ich aus der Partitur lese, umzusetzen und in dem Fall einer größeren Streicherbesetzung muss ich natürlich die Dynamik im Orchester dem anpassen, damit die Deutlichkeit gerade der Holzbläser bewahrt bleibt.
Nun hat man ja bei Ihren Interpretationen immer wieder unterstrichen, dass Sie bei Beethoven doch relativ schnelle Tempi verwenden…
Das bin nicht ich, das ist Beethoven, der das verlangt. Das ist eben das Glück, dass man diese Metronomangaben hat, während die Aufführungspraxis durch Dirigenten wie Furtwängler nach eigenen Gesichtspunkten verändert wurde. Ich sage Furtwängler, aber es gab auch viele andere. Nur war Furtwängler der Prototyp des von Wagner herkommenden poetisierenden Dirigenten, der alles praktisch langsam dirigierte.
Sind Sie eigentlich immer bei diesem Tempi geblieben? Man sagt von einigen Dirigenten, dass sie wieder langsamer werden, wenn sich so etwas wie Altersweisheit einstellt.
Na ja sicher, der Blutdruck und die Lebensenergie verändern sich halt bei jedem. Ich bin sicher jetzt im Ganzen moderater als noch vor Jahren, das ist schon richtig, und trotzdem haben sich, gerade eben weil Beethoven metronomische Angaben macht, die Tempi bei mir am allerwenigsten verändert.
Sie haben an etwas nicht immer geglaubt, nämlich an den Musikbetrieb. Sind Sie eigentlich auch jetzt, im Alter – Sie sind jetzt 78 – immer noch ein so ein kritischer Begleiter des Musiklebens?
Ja! Ich finde immer noch die meisten Programme langweilig. Die meisten Abonnementprogramme müssen dem Publikumsgeschmack entgegen kommen und ziemlich konservativ sein. Es braucht eines unheimlichen Charismas des Dirigenten, z.B. von Herrn Rattle, um ziemlich viel neuere Musik in seinem Programm durchzusetzen und dann auch noch damit großen Erfolg zu haben. Ich spiele gerade jetzt, in eben dem von Ihnen angesprochenen Alter, nicht mehr soviel neue Musik wie früher. Die Augen wollen es nicht und die Energie reicht nicht. Die Energie reicht sehr gut für klassische Musik und für den Enthusiasmus, ein Werk wie die Missa Solemnis modellhaft aufzuführen. Das ist es nämlich, was ich vorhabe. Wir haben genug Probenzeit und wir haben auch ausgezeichnete Kräfte. Die Voraussetzungen sind also ganz gut und daher lohnt es sich auch, zu kämpfen. Aber generell gesehen, glaube ich nicht, dass das öffentliche Musikleben ein sehr interessantes ist. Ehrlich!
Sie haben vorhin gesagt, dass Sie relativ spät angefangen haben, Beethoven zu dirigieren. Sie haben Informationen aus einem Aufsatz erhalten. Hatten Sie eigentlich – Sie waren ja ein Autodidakt – dennoch dirigentische Vorbilder?
Ja natürlich und vor allem Erich Kleiber, den ich schon als Junge mit 12 Jahren zuerst in Buenos Aires erlebt habe und dessen Platten ich kannte. Toscanini war natürlich von seinen Schallplatten her auch ein großes Vorbild und dann Karajan! Karajan ist ja nun auch kein Hund! Von ihm gab es verschiedene Versionen der Beethoven-Symphonien, und so konnte man sich schon sehr gut informieren, wie diese Werke von berühmten Kollegen aufgeführt wurden und sich davon auch wieder ein Bild machen: Wie weit ist das etwas, was ich auch anstrebe oder inwieweit möchte ich das anders haben als diese berühmten Kollegen.
Gibt es, wenn Sie jetzt auf Ihre Karriere zurückblicken, eigentlich so etwas wie Perioden? Haben Sie eine Sturm- und Drangperiode gehabt, sind Sie heute etwas ruhiger geworden?
So ist es! Wenn ich mich mal aufgeregt habe, als junger Mensch, war ich meistens zu schnell. Also der Vorwurf, dass ich zu schnell war, der hat sicherlich gestimmt, außer bei Beethoven, weil ja da die Tempi nicht von mir stammten, sondern aus der Metronomisierung von Beethoven. Aber ich schon sehr ungeduldig, und das hat sich zwischenzeitlich schon ein wenig gelegt und vielleicht sind dadurch meine Tempi jetzt ausgeglichener. Ich habe das z.B. bei Mahler gemerkt, da hatte ich, als ich anfing in Baden-Baden, 1986/1987 die Gelegenheit, die Neunte von Mahler zu dirigieren und als ich sie mir dann anhörte, war ich enttäuscht von mir selber, weil die Burleske viel zu schnell war. Das Stück wurde nicht mehr deutlich, weil es eben zu schnell war und deshalb habe ich vor zwei Jahren das Werk noch einmal einstudiert, öffentlich gespielt und auch aufgenommen und damit bin ich jetzt zufrieden. Man braucht halt für so schwierige, große und reife Werke auch selber eine gewisse Reife.
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