Michael Gielen, der mittlerweile den Taktstock beiseitegelegt hat, war nicht nur einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit, er hat einigen Komponisten wirklich seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt und sie mit herausragenden Interpretationen bedient. Dazu gehört Johannes Brahms, dessen Werke bei ihm immer gut aufgehoben waren.
Hauptmerkmal seiner Brahms-Interpretationen ist der Fluss der Musik, das Finalbezogene, ein Schwung, der die Musik kräftig vorantreibt und in diesen Schwung alles einbettet, was Brahms braucht, die Schatten, die Seufzer, und zwar ohne, dass der Musik je ihre große Linie genommen wird. Naturgemäß ist das Drängende in der Ersten Symphonie besonders wichtig, aber Drängen heißt bei Gielen nicht schnell, sondern, dass der Hörer das Pulsierende der Musik in allen Nuancen spürt, in Steigerungen wie im Decrescendo.
In der Zweiten Symphonie ist zu bewundern, wie Gielen die Melodien durch agogische und dynamische Feinheiten sehr plastisch, sehr deklamatorisch herausarbeitet. Schade nur, dass das Orchester trotz seinem hohen Niveau nicht ganz die Qualität erreicht, die dieses Melodische, besonders in solistischen Einlagen, zu voller Wirkung bringen können. Im Übrigen ist zu notieren, dass Gielen die Brahms-Pastorale nicht ganz so idyllisch werden lässt wie etliche seiner Kollegen (z.B. Mariss Jansons), sondern die dunklen Schatten, die manchmal über der Musik liegen, doch sehr deutlich werden lässt.
Die Aufnahme der Dritten Symphonie zeigt sehr gut, dass der Rhythmus bei Gielen nie mechanisch wird und die Musik nie wie ein Motor vorwärts treibt. Mit biegsamem Tempo, durch feine Verzögerungen und Beschleunigungen wird sie in ihrem Fluss sehr lebendig und zeigt eine gewisse Unruhe – etwa zu vergleichen mit dem Spiel der Wellen im Meer. Gielen findet in dieser Dritten das richtige Maß zwischen Melos und Rhythmus, und seine Kantabilität wird stellenweise nahezu hymnisch.
Im ersten Satz der Vierten ist die wirbelnde Strömung im Fluss der Musik von zwingender Kraft. Die Resignation im zweiten Satz ist umso verstörender und hebt sich von dem mit viel Frohsinn dirigierten dritten Satz ab, der wiederum in eklatantem Gegensatz zu dem stimmungsvollen Ernst des letzten Satzes steht. Nur eines fehlt auch hier nicht: spannungsgeladen-leidenschaftliches Pulsieren der Musik im Kampf mit matten, fast hoffnungslosen Passagen.
Den Bewegungsimpuls finden wir auch im Doppelkonzert mit Mark Kaplan und David Geringas: das Straight Forward-Spielen, das Finaldenken aller Beteiligten, die Brillanz und Pracht des Klangs sind mitreißend. Der Hörer sitzt in einem Boot, das ihn unaufhörlich vorwärtsbringt, an den üppigsten Klanglandschaften vorbei. Im Übrigen haben wir es hier mit einer außergewöhnlich gut gemachten Tonaufnahme zu tun, in der die Balance zwischen Soloinstrumenten und Orchester besser realisiert wird als in vielen anderen Einspielungen.
Wenn Arnold Schönberg scherzhaft sagte, seine Bearbeitung des Klavierquartetts in g-Moll op. 25 von Johannes Brahms sei Brahms’ Fünfte Symphonie, so hilft Michael Gielen ihm, dieser Aussage eine gute Grundlage zu geben. Er dirigiert das Werk dramatisch, mit scharfen Kontrasten. So bleibt die Feinheit der Brahms-Strukturen erhalten, das Farbenspiel wird reich und die Transparenz des Orchesterklangs ist bemerkenswert.
Weniger glücklich werde ich mit dem Ersten Klavierkonzert, dessen Konzept, wohl durch Gerhard Oppitz bedingt, nicht zum Rest passt, nicht die zwingende Kraft der übrigen Aufnahmen hat. Deshalb mag sie auch, obschon 1991 eingespielt, nie veröffentlicht worden sein. Die Erstveröffentlichung in dieser ansonsten hoch attraktiven Box wäre nicht nötig gewesen.
Michael Gielen’s Brahms is intense and forward driving, rhythmically spontaneous, finally shaded, with the full power of dramatic climaxes and beautiful lyrical passages.