Das Luzerner Sinfonieorchester ist ein Klangkörper, der in den vergangenen Jahren enorm an Qualität zugelegt hat, und trotzdem personalmäßig relativ klein besetzt ist. Reicht das denn auf die Dauer für größere Werke und höhere Ansprüche? Zudem ist es ein Zweispartenorchester, das sowohl hier in der Oper wie auch im Konzertsaal spielt.
Uns beiden fallen sicherlich einige Orchester ein, die sowohl im Orchestergraben wie auch auf der Konzertbühne spielen. Und beides auf höchstem Niveau. Das geht also, keine Frage. Das Entscheidende liegt nicht hier. Ich habe in meiner dirigentischen Laufbahn zwei sehr unterschiedliche Orchester geleitet. Das exemplarische kammersymphonische Orchester in Potsdam und die traditionsreiche, romantisch geprägte Dresdner Philharmonie. Hier in Luzern erlebe ich eigentlich die Vorzüge beider, und darauf kommt es mit letztlich auch an: Nämlich die Aufmerksamkeit für das kleinste Detail und eine wirkliche zwischenmenschliche Kommunikation auf musikalischer Ebene einerseits, das absolute Beherrschen des klassisch-romantische Repertoires andererseits. Wenn Sie allerdings Max Reger spielen wollen, so ist das nahezu unmöglich, der dafür verlangte Opulenz können Sie mit den Luzerner Sinfonieorchester nicht gerecht werden. Um solche Werke spielen zu können, müssen wir uns also weiterhin vergrößern. Das Luzerner Orchester spielt momentan mit 78 Musikern, das ist gut, reicht aber noch nicht. Und diese Erweiterung ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem es mir sehr wichtig ist, all das, was die Qualität des Orchesters momentan ausmacht, beizubehalten und in ein größeres Effektiv miteinfließen zu lassen. Dieser feine, kammermusikalische Charakterzug soll auch bei Mahler, Strauss und Bruckner erhalten bleiben. Diese Erweiterung der Luzerner Familie ist unser Ziel. Dafür wurde ich hergeholt.
Wie wird das Orchester finanziert?
Es ist eine Mischfinanzierung, pauschal würde ich schätzen werden 40% von Stadt und Land, also vom Kanton getragen, der Rest ist privat.
Und wie sieht es mit dem Repertoire aus? Mit 78 Musikern ist, wie gesagt, vieles, aber nicht alles möglich.
Unser Repertoire ist trotz allem relativ vielseitig. Die Klassik ist natürlich die Keimzelle vom Orchester; wir versuchen allerdings auch regelmäßig, sowohl der Barockmusik wie auch der Romantik und der Moderne gerecht zu werden.
Sie haben ja hier in Luzern das große Glück, einen der besten Konzertsäle zur Verfügung zu haben. Wie wichtig ist gerade dieser akustisch wunderbare Saal des KKL für die Entwicklung des Luzerner Sinfonieorchesters?
Ein Saal, und das weiß ich seit meiner Dresdner Zeit nun ganz genau, ist eines der prägenden Elemente für die Qualität eines Orchesters. Je besser der Saal, umso besser ist das Orchester. Je mehr Chancen hat es, sich qualitativ weiterzuentwickeln. In einem schlechten Saal hat kein Orchester eine Chance. Auch das Publikum ist zufriedener in einem akustisch hervorragenden Saal mit einer schönen, angenehmen Ambiente.
In den acht Jahren, wo ich in Dresden war, war ich ein Jahr im alten Saal, fünf Jahre lang in fünf verschiedenen Sälen der Stadt, einer schlechter als der andere und nur zwei im jetzt neurenovierten Kulturpalast. Ich weiß deshalb sehr genau, was ein Saal für ein Orchester bedeutet. Hier in Luzern haben wir nicht nur das phänomenale KKL, sondern seit zwei Jahren zudem einen akustisch hervorragenden Probesaal, wo der Sprung vom Probesaal zum Konzertsaal nicht mehr einem Hochsprung gleicht, sondern wo wir sehr nahe an einer gleichwertigen Qualität dran sin. Die Wichtigkeit eines Probesaales, wo man schon hier schon orchestrale Feinarbeit leisten und einstudieren kann, darf nicht unterschätzt werden. Ein riesiger Saal wie eben der weiße Saal des KKL verlangt auch ein resonanzstarkes Orchester, was wiederum ein Grund ist, das Effektiv zu erweitern. Das ist ein zwangsläufiger Schritt, um Qualität zu garantieren und sicherlich kein Größenwahn.
Und ein guter Saal fördert eine gesunde Konkurrenz.
Ein guter Saal heißt immer, dass Sie auch viele gute Gastorchester haben und sich, wie beim Lucerne Festival, die besten Orchester und Dirigenten der Welt sich die Klinke in die Hand drücken. Solche Konzerte auf allerhöchstem Niveau sollen dann natürlich auch ein Ansporn für das ortsansässige Stadtorchester sein. Und sind es auch. Das Luzerner Sinfonieorchester stellt sich dieser Konkurrenz, wenn ich das mal so sagen darf, mit Stolz und erhobenem Haupte
Ist es nicht generell ein Problem im Musikbetrieb, dass wir alle, Musikliebhaber, Kritiker, Medien, Plattenfirmen, die Orchester immer noch in Ligen einteilen. In der Topliga spielen dann die Berliner und Wiener Philharmoniker, das London Symphony Orchestra, das Concertgebouw und noch andere, dann gibt es noch eine Reihe sehr guter und schließlich die Provinzorchester.
Vieles spielt sich, wie Sie sagen, in den Köpfen der Menschen ab. Vielleicht bin ich altmodisch, aber ich kategorisiere für mich nur Bewertungen: Entweder das Orchester hat eine Qualität, die ich als Anspruch definiert habe und erfüllt ihn, oder es hat sie eben nicht. Ich muss mich nicht darum kümmern, ob sich ein Konzert verkauft oder nicht und kann mich so ausschließlich auf die künstlerische Qualität konzentrieren. Als Musiker verbiete ich mir dieses Nachdenken. Ich mache nichts, weil es sich gut verkaufen lässt, sondern ich mache es, weil ich entweder davon überzeugt bin, weil ich es besonders liebe oder weil ich glaube, dass es für die Entwicklung des Orchesters sehr wichtig ist. Dieses Kategorisieren finde ich in einem Metier von Kunst eher schwer. Das fängt auch damit an, dass die Geschmäcker verschieden sind. Was am Ort A wunderbar funktioniert, wichtig und richtig ist, kann am Ort B ganz falsch sein.
Sie waren Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, ein Orchester, das immer noch im Schatten der Staatskapelle steht, die weitaus stärker vermarktet wird, als eben die Philharmonie, obwohl diese ein qualitativ erstklassiges Orchester ist. Ich erinnere mich da gerne an eine atemberaubende Aufführung der 7. Symphonie von Bruckner unter Kurt Masur.
Machen solche Vergleiche wirklich Sinn? Jedes Orchester hat Stärken, und jedes Orchester hat Schwächen. Ich gebe Ihnen aber Recht, es gibt viele Orchester die Stärken haben, und niemand hat sie wahrgenommen. In Dresden hat es damit zu tun mit einer großen Geschichte. Und Dresden, wie auch andere Städte mit einer solchen Tradition, ruhen sich gerne auf ihrem „es war einmal-Charakter“ aus. Es war einmal, und das vor sehr langer Zeit, die Staatskapelle. Dieses Orchester wurde 1548 gegründet und hat die Stadt und ihre Geschichte über Jahrhunderte geprägt. Die Dresdner Philharmonie existiert erst seit 1871. Das erklärt eigentlich alles. Und wenn man in einer Stadt wie Dresden die Staatskapelle dirigiert, dann dirigiert man auf keinen Fall die Philharmoniker. Gleiches findet man in Leipzig. Wenn man beim Gewandhaus ist, ist man nicht beim MDR. Jemand der das macht, wird zum Staatsfeind Nummer 1 erklärt (lacht). Das ist natürlich völliger Unsinn, aber es wird auch heute noch so gehandhabt. Es ist vor allem eine Frage der Wahrnehmung, nicht der Qualität. Wenn die Staatskapelle auf Tournee geht, wird das an die große Glocke gehängt und es wird überall darüber berichtet. Nicht so bei der Dresdner Philharmonie. Wir haben mit der Dresdner Philharmonie in einem Jahr 124 Tourneekonzerte gemacht, das Problem ist, sie werden international und auch national nicht wahrgenommen.
Sie selbst stammen aus einer traditionsreichen Musikerfamilie. Ihr Vater war der berühmte Dirigent Kurt Sanderling, ihre Brüder Thomas und Stefan sind ebenfalls Dirigent und ihre Mutter war Kontrabassistin. Sie haben sich dann am Anfang ihrer Karriere für das Cello entschieden, dann später zum Taktstock gewechselt. Aber man wird doch nicht plötzlich und einfach so Dirigent.
Doch. Ich wurde plötzlich und einfach so Dirigent. Lassen Sie mich die Geschichte kurz erzählen. Ich spielte aus Freude zusätzlich in einem Kammerorchester, das ohne Dirigenten auskam. Also ein gutes Orchester (lacht). Das wurde natürlich geleitet von der ersten Geige. Wir waren auf einer längeren USA-Tournee und sollten bei unserer Rückkehr nach Deutschland sofort ein Abonnementskonzert in der Berliner Philharmonie spielen. Die Konzertmeisterin war schwanger und die Tournee hatte sie so angestrengt, dass sie in Berlin ausfiel und mich fragte, ob ich das Konzert kurzfristig leiten könnte. Ich war damals Anfang dreißig und wohl noch sehr grün hinter den Ohren. Ohne Nachzudenken sagte ich zu und habe mir die Partituren angesehen. Nach drei Tagen sagte ich ihr, dass ich es nicht machen könnte. Als Cellist hat man eine sehr ungünstige Position und auch musikalisch spielt man nicht die erste Stimme. Dann gab es einen riesigen Aufstand und wir einigten uns dann darauf, dass ich nicht vom Cello aus leiten sollte, sondern mich als Dirigent vor das Orchester stellen sollte. Ich sagte Ihnen, dass ich mir mein bisschen Name als Cellist nicht dadurch kaputtmachen wolltre, dann stell ich mich lieber hin und dirigiere und mache mir den nicht vorhandenen Namen eines Dirigenten kaputt. Es ist gutgegangen. Sogar so gut, dass viele mich unterstützt haben, in diese Richtung weiterzugehen. Zudem habe ich auch gemerkt, dass ich in einem gewissen Alter als Cellist spieltechnisch nicht mehr das machen konnte, was ich wollte. Ich habe diesen entscheidenden Punkt glücklicherweise relativ früh bemerkt. Nun, und jetzt bin ich hier. Und die Entscheidung war dann sehr schnell getroffen. Ich unterrichte zwar noch Cello, spiele aber keinen Ton mehr öffentlich.
Sie waren Chefdirigent in Potsdam und dann 8 Jahre in Dresden. Warum sind Sie dort weggegangen?
Ich bin überzeugt davon, dass man als Dirigent nicht zu lange bei einem Orchester bleiben soll. Ich habe selber über 16 Jahre als Cellist in einem Orchester gespielt und weiß ziemlich genau, wie ein Verhältnis zwischen einem Orchester und einem Dirigenten ist, wie es sein kann und wie es sich verändern kann. Deshalb weiß ich auch, dass jedes Verhältnis zwischen Orchester und Chefdirigent dem Phänomen der Abnutzung unterliegt. Das ist etwas völlig Normales. Und wenn das Orchester schon vorher weiß, wie ich den Takt schlage und was ich will, wenn ich genau weiß, wie dieser und jene Musiker spielt und phrasiert, wenn es keine wirklichen Überraschungen und Herausforderungen bei der Arbeit gibt, dann ist der Zeitpunkt gekommen, sich zu trennen. Meine Aufgabe in Dresden war klar formuliert. Ich sollte das Orchester noch im alten Saal übernehmen, dann die Interimszeitkünstlerisch garantieren und die Dresdner Philharmonie noch zwei Jahre im neuen Kulturpalast leiten und es für die neue Akustik fitmachen. Das hat zeitlich alles perfekt funktioniert und ich habe bereits 2016 bekanntgegeben, dass ich für eine Verlängerung nicht zur Verfügung stehen würde. Zeitgleich wurde ich allerdings auch mit einer Kürzung des Budgets konfrontiert, die nicht sehr sauber und ehrlich kommuniziert wurde. Meinen Weggang, der wie gesagt schon vorher beschlossen war, aber von dem außer dem Orchester niemand wusste, benutzte ich dann als Druckmittel, um trotzdem noch die Gelder zu bekommen. Meine Rechnung ging auf, der Beschluss wurde zwar nicht zurückgenommen, aber wir bekamen dann die Gelder aus einem anderen Topf.
Und wie kommt man von Dresden nach Luzern?
Ich habe eine erfreulich längere Geschichte mit dem Orchester. Seit 2010 kam ich zum ersten Mal nach Luzern, es kam eine Tournee, mehrere Gastspiele und es kam der Moment, wo eigentlich alles stimmte. Und wo beide Seiten sich überlegt haben, ob man ein Stück Weg gemeinsam gehen könnte. Dann ging alles ziemlich schnell und im Sommer 2020 unterschrieb ich dann denn Vertrag. Seitdem ist es für mich die richtige Entscheidung gewesen und ich fühle mich sehr wohl mit dem Luzerner Sinfonieorchester. Den Rest müssen die Musiker sagen…