Herr Tilson Thomas, Sie haben sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Gustav Mahlers Musik auseinandergesetzt und in San Francisco alle Symphonien und Lieder sowohl im Konzert gespielt wie auch auf CD aufgenommen. Wie würden Sie Ihren Mahler-Weg beschreiben?
Seit ich in San Francisco Chefdirigent bin, haben Mahlers Symphonien immer eine sehr große Rolle gespielt. Ich glaube, sie sind auch dieses feste Bindeglied, das die Musiker des SFS und mich aneinanderschweißt. Wir haben uns für diese Erarbeitung und die damit verbundene Gesamtaufnahme bewusst gut zehn Jahre Zeit gelassen, so dass wir alle gemeinsam an diesem Projekt gewachsen sind. Ich glaube, die gleichzeitige Entwicklung ist sehr, sehr wichtig für die Zusammenarbeit zwischen einem Chefdirigenten und seinen Musikern. Sehen Sie, unsere erste Begegnung fand bereits 1974 mit Mahlers 9. Symphonie statt. Das ist nun fast 40 Jahre her und im Laufe dieser langen Jahre, wo ich zuerst das SFS als regelmäßiger Gastdirigent leiten durfte, hat Mahler immer eine sehr wichtige Rolle in meiner Arbeit in San Francisco gespielt. So konnte ich nicht nur meine Beziehung zu dem Orchester vertiefen; diese Arbeit war auch sehr wichtig für mich selbst und brachte mich näher zu meinen eigenen Gefühlen und wie sie mich mit Mahler verbinden. Nach und nach lernte ich dann zu erkennen, wie dieser gewaltige Kosmos von Symphonien zusammenhängt.
Mahler sagte „Meine Zeit wird kommen“. Warum hat es denn so lange gedauert, bis die Menschen diese wunderbare Musik wirklich schätzen konnten?
Mahler wusste, dass er seiner Zeit voraus war und dass es dauern würde, bis man seine Musik begreifen würde. Eine der Botschaften von Mahlers Musik ist ja diese optimistische Grundhaltung, dass alle Frustrationen und Schwierigkeiten des Lebens, egal wie schlimm und wie schwierig, nur von flüchtiger Natur sind. Da gibt es bei Mahler doch immer wieder diese wunderschönen Augenblicke, die mir als Mensch und Interpret sagen, dass es wichtig ist, gerade diese Momente mit anderen Menschen zu teilen, ihnen Hoffnung zu geben. Und das schöne an der Musik ist ja, dass wir diese Momente immer wieder erleben können. Sei es nun durch einen Konzertbesuch oder durch das Hören einer CD.
Trotzdem ist es nicht einfach, Mahlers Musik zu interpretieren und zu spielen. Sie müssen immer wieder an die Grenzen gehen. Mahler verlangt oft fast Unmögliches von uns Musikern. Mal müssen wir so hart spielen, dass die Musik nahezu zu explodieren droht und manchmal müssen wir so weich und langsam spielen, dass die Noten fast auseinanderbrechen oder gar verschwinden. Dann muss man wieder über sehr lange Strecken extrem kraftvoll spielen, was man nur mit einer eisernen Konzentration und einem unwahrscheinlichen Durchhaltevermögen schafft. Da muss jeder einzelne Musiker seine Kräfte bestens aufteilen können. An manchen Stellen muss man so die Musik so überzeichnen, dass sie schon wieder fast grotesk wirkt und an anderen, muss man sie mit einer solchen Sensibilität interpretieren, die unser eigenes Inneres ganz nach außen kehrt und wir uns Musiker fast verletzbar machen. Aber gerade diese musikalischen Grenzgänge liebe ich an Mahlers Musik; er verlangt, dass wir uns ihr hingeben und so können wir alles mit dem Publikum teilen. Dirigent, Musiker, Publikum, wir alle erleben Mahlers Musik in jedem Moment der Aufführung gemeinsam. All dies mussten wir Musiker uns erst im Laufe der Jahre und Jahrzehnte aneignen. Mahlers Symphonien zu verstehen brauchte seine Zeit.
Wie Sie sagen, haben Sie eine sehr lange Beziehung zu der Musik Gustav Mahlers. Hat Sie diese Musik verändert?
In der Tat, ich habe mich schon seit jeher sehr stark mit Mahlers Musik identifiziert. Ich war knapp zehn Jahre alt, als ich sie zum ersten Male hörte. Und sie berührte mich damals schon sehr intuitiv, als wäre sie ein Teil von mir. Einige seiner Werke haben dann auch einen so starken Einfluss auf mich gehabt, dass sie mich als Menschen irgendwie verändert haben. Meine Art, wie ich die Welt sehe und wie ich Verschiedenes erlebe, habe ich ganz und gar dem Einfluss von Mahlers Musik zu verdanken. Sie hat mich so stark geprägt und ich habe sie so verinnerlicht, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn ich sie nie mehr hören könnte. Ich trage Mahlers Musik ganz tief in mir. Das erlaubt mir auch eine gewisse Freiheit, denn so kann ich mich ganz darauf konzentrieren, sie mit meinen Musikern zu spielen und sie dem Publikum nahe zu bringen.
Sie feiern in diesem Jahr Ihren siebzigsten Geburtstag. Welche Bilanz ziehen Sie als Musiker?
Ich messe den Erfolg eigentlich immer daran, wie tief wir unser Publikum berührt haben, wie gut wir die musikalische Botschaft vermittelt und wie viele neue Zuhörer wir gewonnen haben. Denn das ist unsere Aufgabe als Interpreten. Ich habe mich immer als ein Vermittler zwischen dem Komponisten, seiner Musik und dem Publikum gesehen. Und das SFS teilt mit mir diese Ansicht. Und wenn ich nun zurückblicke, dann kann ich sagen, dass es uns gelungen ist, unser Publikum als einen tatsächlichen Partner zu gewinnen. Musik machen ist wie ein Spaziergang im Park. Sie kennen den Park, sie kennen die Wege. Aber je nachdem, mit wem Sie durch diesen Park gehen, verändert sich Ihre Wahrnehmung und Sie erleben die Natur anders. Und durch meine Freunde aus dem SFS habe ich die Welt Mahlers immer wieder mit anderen Augen sehen können.
2014 ist für Sie ein Jahr der Jubiläen. Neben Ihren 70. Geburtstag feiern Sie außerdem 20 Jahre als Chefdirigent beim SFS. Und vor 40 Jahre haben Sie in San Francisco debütiert. Wie würden sie denn das SFS beschreiben?
Zuerst einmal ist es sehr wichtig für mich, eine sehr lange Beziehung zu einem Orchester aufbauen zu können. Denn nur so kann man eine wirklich konstruktive Arbeit vorweisen. Ich arbeite jetzt zwanzig Jahre lang als Chefdirigent in San Francisco, meine enge Zusammenarbeit mit dem London Symphony Orchestra dauert bereits 40 Jahre. Ich habe in Miami das New World Symphony Orchestra gegründet und während fünfundzwanzig Jahren geleitet. In jedem dieser Fälle war es möglich, mit einem Ensemble zu arbeiten, eine Partnerschaft aufzubauen und die Werke, die Musik immer wieder aufs neue zusammen zu ergründen. Und wenn man sich als ein Team sieht, das zusammen am gleichen Strang zieht, dann spürt dies auch das Publikum. All diese Orchester haben sich im Laufe der Jahre verändert und ihre Kunst verfeinert, so dass auch die Beziehungen untereinander, zu mir als Dirigenten und zum Publikum auf eine sehr natürliche Weise gewachsen sind.
Bereits als ich das SFS zum ersten Mal hörte, sind mir die unwahrscheinliche Qualität und der Wagemut dieses Orchesters sofort bewusst geworden. Und diese Faszination ist für mich bis heute ungebrochen. Ich bin jedes Mal von der puren Brillanz, der qualitativen Beständigkeit und der großen Eleganz dieses Orchesters begeistert. Das SFS ist ein Kollektiv von Musikern, die sich hundertprozentig mit ihrer Stadt identifizieren und ihren Geist in einem Maße reflektieren, wie man kaum sonst wo auf der Welt erlebt. Denn wo anders denn als in San Francisco findet man diese Weltoffenheit, diese lebendige Kulturvielfalt und diese ungebrochene Abenteuerlust?