Ein Interview von Alain Steffen
Seit seinem vierten Lebensjahr – seit 62 Jahren also – spielt Murray Perahia Klavier. Im Jahr 1968 debütierte der amerikanische Pianist sephardischer Herkunft in der New Yorker Carnegie Hall. Sein internationaler Durchbruch erfolgte mit dem Gewinn des renommierten Klavierwettbewerbs in Leeds 1972. In letzter Zeit stritt er auch als Dirigent auf.
Kritiker loben oft Ihre sehr empathischen Interpretationen und die Schönheit Ihres Klanges. Wie sehen Sie sich selbst als Pianisten und was ist für Sie die wichtigste Botschaft, die Sie mitteilen wollen?
Jeder Komponist hat eine Botschaft, die er mitteilen will, eine emotionale Botschaft. Musik hat immer etwas mit Emotionen zu tun. Bei Bach ist es die Liebe zu Gott, die überall in seinen Werken und insbesondere in seinen einmaligen Passionen hervortritt und noch heute die Menschen tief berührt. Bei Beethoven stehen humanistische Gedanken im Mittelpunkt. « Alle Menschen werden Brüder », das ist seine alles umfassende Botschaft. Musik ist in erster Linie eine Herzenssache, der Verstand muss diese Gefühle nur in eine Ordnung bringen, muss Strukturen und innere Zusammenhänge erkennen. Und jede Beschäftigung mit einem Stück, so gut man es auch kennt, öffnet neue Türen und stellt neue Fragen. Mit Bach, Beethoven, Mozart und Brahms kann man nie abschließen.
Grosse Meister, bei denen Sie studiert und mit denen Sie zusammengearbeitet haben waren Vladimir Horowitz, Benjamin Britten, Peter Pears, Rudolf Serkin. Was haben Sie von ihnen gelernt?
Sie lebten die Musik und sie lebten mir die Musik vor! Horowitz, Curzon und Serkin, das waren nicht nur Pianisten, das waren vollkommene Musiker, die sich auch in der Kammermusik sehr gut auskannten. Sie wussten unheimlich viel. Es waren Musiker, die den Dialog suchten, die immer auf der Suche nach der musikalischen Wahrheit waren. Bei ihnen kam die Musik an allererster Stelle, und wenn ich Musik sage, dann meine ich die tiefen Botschaften, die hinter den Noten versteckt sind, die Karriere, oder das, was wir heute unter musikalischer Karriere verstehen, war ihnen nie so wichtig. Es gehörte dazu, sicher, aber für diese Musiker war das nicht ausschlaggebend.
Kann man diese großen Meister mit den Pianisten von heute vergleichen?
Es ist schwierig, hier die richtigen Worte zu finden, um niemanden zu verletzen. Man muss bedenken, dass es eine ganz andere Zeit war. Früher hatte die klassische Musik einen ganz anderen gesellschaftlichen Impakt, denn damals gab es noch keine Popmusik. Die populäre Musiik, denken Sie nur an George Gershwin, wurde von versierten Komponisten gemacht und diese brauchten wiederum technisch brillante Interpreten. Damals konnte man sich nicht mit Hilfe technischer Mittel einfach durchmogeln, wie es in der Popszene üblich ist. Durch die Dominanz der Popmusik und der boomenden Unterhaltungsbranche muss die Klassikwelt natürlich reagieren. So setzt man lieber auf junge, hübsche Musiker, als auf alte, weise Herren, die optisch keinen mehr ansprechen. Nur, junge Musiker sind keine fertigen Musiker. Doch die Branche lässt der jungen Generation kaum Zeit, sich zu entwickeln, Erfahrungen zu machen, kurz, die Musik zu ihrem Mittelpunkt zu machen. Junge Musiker, wenn sie nicht aufpassen, werden viel zu schnell verheizt. Und so kommt es immer häufiger vor, dass die wirkliche Arbeit, die Interpretation zu kurz kommt, die Konzerte und die CD-Aufnahmen oberflächlich und persönlichkeitsarm wirken. Verstehen Sie mich nicht falsch: der junge Musiker von heute hat enorme Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen, sich in verschiedenen Richtungen auszuprobieren. Nur ist es so, dass jeder ganz schnell Karriere machen will und auch muss, denn spielt er nicht mit, ist sein Vertrag mit einer großen Plattenfirma hin, und man nimmt den nächsten gut aussehenden Musiker. Die jungen Musiker von heute haben es eigentlich viel, viel schwerer als die alte Generation, denn niemals war der Konkurrenzdruck so gross.
Moderne Werke findet man eigentlich nie in Ihren Programmen. Wie ist Ihr Verhältnis zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur zeitgenössischen Musik?
Ich verstehe die zeitgenössische Musik nicht. Ich spiele nur moderne Musik, wenn sie tonale Züge besitzt. All diese atonalen Stücke, mit denen man heute regelrecht überschwemmt wird, interessieren mich nicht. Ich kann mit diesen leeren Tönen nichts anfangen, es ist eine Musik, die ich einfach nicht verstehe. Bartok oder Shostakovich haben großartige Klavierwerke geschrieben, bei ihnen lösen sich die Dissonanzen auf, führen zu neuen Harmonien und haben demnach einen Sinn. Lose Dissonanzen haben keine Tiefe. Ich habe mich viel mit modernen Komponisten wie Boulez und Elliot Carter beschäftigt, aber ihre Musik bleibt mir trotzdem fremd. Es ist natürlich sehr interessant, über den Bruch der Tonalität nachzudenken. Warum sich die klassische Musik im 20. Jahrhundert immer weiter von ihr entfernt hat.
Haben Sie denn eine Antwort darauf?
Sicherlich keine hundertprozentige. Kunst spiegelt immer unser gesellschaftliches Befinden wieder, das kann man auch in der Musik sehr gut nachvollziehen. Die Atonalität hielt ihren Einzug so um 1910, also kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Ich bin davon überzeugt, dass die Katastrophen im vorherigen Jahrhundert, der 1. Weltkrieg, Nazideutschland, der 2. Weltkrieg, die unterdrückten Länder Osteuropas, Stalin, der Terrorismus, sich in der Musik wiederspiegeln. Das beste Beispiel ist natürlich Dmitri Shostakovich, der wie kein anderer die politische Situation in der Sowjetunion dargestellt hat. Und Darmstadt war dann eine natürliche Antwort auf die Postromantik. Man war realistischer geworden. Für überschwängliche Gefühle gab es keinen Platz mehr. Ungerechtigkeiten mussten aufgedeckt, die Befindlichkeit der Menschen offen gezeugt werden. Und während sich die klassische Musik in die atonale Richtung bewegt hat, haben andere Musikstile das sogenannte ‘Schöne’ übernommen. Aus Puccini wurde ‘Das Phantom der Oper’. Nicht ohne Grund feiern Musicals Hochkonjunktur. Sie haben die Oper abgelöst. Die musikalische Freiheit, die in den mathematischen Berechnungen der Avantgarde keine Existenzberechtigung mehr hatte, übertrug sich immer mehr auf den Jazz.
Kommen wir noch einmal zurück auf die Klassik. Sie treten in der letzten Zeit auch als Dirigent auf.
Ja, allerdings in einem beschränkten Repertoire. Und nur, wenn ich im ersten Konzertteil ein Klavierwerk spiele. Mich interessiert das Orchester eher als kammermusikalischer Partner. Deshalb ziehe ich es vor, mit kleineren Ensembles und Kammerorchestern zu arbeiten. Ich finde es unwahrscheinlich spannend, ohne Dirigent und vom Klavier aus mit den Musikern quasi im Team zu arbeiten. Das gibt der Aufführung immer einen besonderen Flair und eine große Lebendigkeit. Aber es reizt mich manchmal auch, außergewöhnliche Werke auf das Programm zu setzen.