Vyacheslav Artyomov: Symphonie 'The Way to Olympus' + Gurian Hymn + Preludes to Sonnets + Concert of the 13; Anton Batagov, Klavier (3), Piotr Meschaninov, Klavier, Moskauer Philharmoniker, Dmitrij Kitajenko (2), USSR State Academic Symphony Orchestra, Gennadi Roshdestvensky (4); 1 CD Divine Art dda 25171; Aufnahmen 1981, 1986, 1987, 1990, Veröffentlichung 06/2018 (70'36)
Vyacheslav Artyomov: Requiem; Inna Poljanskaja, Lubow Shamina, Alexei Martynov, Michail Lanskoi, Andrei Azovsky, Moskauer Philharmoniker, Dmitrij Kitajenko; 1 CD Divine Art dda 25173; Aufnahme 1987, Veröffentlichung 10/2018 (76'11)
Vyacheslav Artyomov: Sola Fide (2 Suiten) + Tempo Costante; Staatlicher Chor Kaunas; Moskauer Philharmoniker, Dmitrij Kitajenko; Moskauer Kammerorchester Musica Viva, Murad Annamamedov; Divine Arts dda 25164; Aufnahmen 1988, Veröffentlichung 03/2018 (70'06) – Rezension von Remy Franck
Dmitri Shostakovich hat traumatische Ereignisse in seiner Musik verarbeitet und sie mehr oder weniger erfolgreich kaschiert bzw. mit Sarkasmus oder Ironie verbrämt, zur eigenen Therapie. Der 1940 geborene Vyacheslav Artyomov ist da viel direkter in seinen Aussagen, er bedient sich nicht der unterschwelligen Revolte oder Zweideutigkeit, mit denen Shostakovich sich vor dem Gulag schützte, er konnte sich wegen des politischen Wandels ab einem gewissen Zeitpunkt seiner Karriere freier ausdrücken. Doch gibt es einen anderen russischen Komponisten, in dessen Musik sich so viel Trauer und Leid, mitunter auch Hoffnungslosigkeit und Angst kondensiert wie bei Artyomov? Artyomovs Musik, deren mystische Welt der Farben und der langen Klanglinien vieles prägt, was er komponiert hat, ist, so wie sie auf den hier vorliegenden vier CDs zu hören ist, mit wenigen Ausnahmen, etwa den hellen Stimmen im letzten Teil des Requiems, ein Gesang des Leids und des Klagens.
Dirigent Dmitrij Kitajenko, der viel mit Artyomov gearbeitet hat, hält ihn für einen eher verschlossenen Menschen, der sich jedoch in seiner Musik sehr ehrlich ausdrückt: « Er macht keine Show, er meidet jede billige Effekthascherei. In der Form äußert sich das – auch wenn es etwas widersprüchlich klingt – ohne Grenzen begrenzt. Artyomov schaut immer über den Horizont hinaus. »
Der russische Komponist studierte zunächst Physik, danach erst Musik. 1979 wurde er ein Opfer der sowjetischen Zensur, und der dubiose Khrennikov, Vorsitzender des Sowjetischen Komponistenverbands sagte, seine Musik sei ein « lärmender Morast ». Mit einsetzender Perestroika drehte sich Khrennikov mit dem Wind und verkündete, Artyomov sei ein herausragender Komponist, und sein Requiem habe die russische Musik « auf eine nie zuvor erreichte Höhe gebracht. » Tatsächlich ist dieses Requiem ein grandioses, ergreifendes Werk. Der Komponist schuf es nach eigenen Angaben als « musikalisches Monument für die tragische Geschichte Russlands ».
Er formulierte das sehr klar im Jahr 1997, als er vor einer Aufführung des Requiems in Moskau sagte: « Today we are marking a sorrowful date, the 80th anniversary of the Bolshevik coup in Russia. As a consequence, millions of people were destroyed, the country was ravaged, many thousands of its citizens were expatriated, and an oppressive state machine was devised in its territory to terrorize the population, to make them starve, and to exile them to the camps.
The catastrophe that overtook Russia not only brought innumerable human victims, but also ruined the nation morally. The authorities encouraged snitching and treachery. An individual was no longer of any value becoming an instrument of someone’s interests, an instrument with its number as in a camp. In fact, the whole country was turned into a huge camp: everywhere an individual suffered not only physically as he was under constant moral and psychological pressure. And no one remained unnoticed. »
Dem entsprechend ist Artyomovs Requiem ein düsteres Werk, das musikalisch all das Leid schildert, das das russische Volk unter kommunistischer Führung erlitt, und er hatte es am eigenen Leib erfahren.
Die vorliegende Aufnahme von 1988 entstand parallel zu der Vorbereitung der Uraufführung.
Das traditionelle lateinische Requiem diente Artyomov als Basis, aber er legte weitaus mehr hinein als andere Komponisten vor ihm. Es gelang ihm ein ungemein starkes und mitteilsames Werk, dessen spirituellen Gehalt Dmitrij Kitajenko mit der für ihn üblichen zwingenden Kraft umsetzt.
Auf mich hat seit den großen Chorwerken von Krzysztof Penderecki keine andere Vokalkomposition einen so tiefen Eindruck gemacht. Man hört das Werk, und nach den immerhin 76 Minuten, die es dauert, hat man das Bedürfnis, es sofort noch einmal zu hören, das Leid noch einmal zu teilen, das aus Kyrie, Sequentia und Offertorium fast erdrückend aus der Musik strömt.
Selbst das Sanctus enthält keine Freude, sondern beginnt mit einem traurig-verhaltenen Flehen. Dabei hatte man im Lacrimosa geglaubt, die Musik werde heller und kündige ewigen Frieden an. Das wiederholt sich im zweiten des Sanctus, wenn die Kinderstimmen mit ihrer Reinheit eine lichtere Welt zeichnen. Das Benedictus kehrt aber zur Klage zurück und auch in den hellsten Klängen bleibt die Trauer sehr packend. Das Agnus Dei wirft mehr Fragen auf als es Antworten gibt und das Libera me ist wiederum sehr bedrückend. Es klingt, als klagten die Toten aus dem Jenseits über vergangenes, irdisches Leid. Erst im finalen Requiem aeternam und im In Paradisum bestimmt ätherische Ruhe das Klangbild. Welch ein Unterschied zum einleitenden Requiem Aeternam, welch ein Weg des Schmerzes wurde hier zurückgelegt, ehe im In Paradisum die pure geläuterte Schönheit siegt: Frühling liegt in der Luft, wenn die Musik in schillerndem Flirren gegen Himmel strebt.
Unter Kitajenkos starker Hand und mit seiner sinnlichen Klangmagie haben alle Solisten, Chor und Orchester in dieser Aufführung ihr Bestes gegeben, so dass es niemandem an Beseelung fehlt und alle tief in den Herzensgrund des Komponisten vordringen, der von seinem Schmerz und dem seiner Landsleute berichtet.
Artyomovs Ballett ‘Sola Fide’ (Nur durch Glauben) greift Themen aus Aleksey N. Tolstois Trilogie ‘Der Weg nach Golgatha’ (The Road to Calvary) auf, der das Schicksal der russischen Intelligentia am Vorabend, während und nach den revolutionären Ereignissen von 1917 nachzeichnet. Artyomov schuf daraus ein Ballett-Requiem, in dem die Figur des Poeten symbolisch für Kultur steht. Der Tod des Poeten bedeutet mithin eine Katastrophe, nämlich die Zerstörung der Kultur. Kultur, so Artyomov, sei die Existenzberechtigung der Menschheit vor dem Herrn und die Zerstörung der Kultur bedeute den Kollaps der Menschheit. Entsprechend kataklystisch klingt die Musik, die uns mit großer Intensität entgegenflutet. Dirigent Kitajenko treibt sie vor sich her, um im Sinne des Komponisten das Wirkungspotenzial der Kulturfeindschaft mahnend darzustellen.
Die CD endet mit Artyomovs ‘Tempo Costante für Kammerorchester, einem einfallsreich konstruierten und nicht so philosophisch beladenen Stück, das vom Moskauer Kammerorchester brillant dargeboten wird.
Die zweite der vier bei Divine Art erschienenen CDs beginnt mit der Symphonie ‘The Way to Olympus’, einem Werk aus dem Jahre 1978. Der Komponist sagte, die Symphonie ‘beinhalte die Idee, Inertie und Passivität mit Bewegung zu überwinden und sei eine Suche nach Perfektion, um die Integrität der eigenen inneren Entwicklung zu finden. » Derart philosophisch begründet ist die Symphonie ein reflektives und unmittelbar ansprechendes Werk.
Dmitrij Kitajenko dirigiert das zweite Werk dieser CD, ‘Gurian Hymn’ (1986). Das sehr meditative Werk benutzt als Grundlage einen westgeorgischen Ostergesang, ‘Christus ist auferstanden’. Über tiefen Streichern geben Glocken und Vibraphon sowie und ein Trio von Soloviolinen der Musik einen ‘himmlischen Touch’. Die Aufnahme ist sehr stimmungsvoll, wobei Kitajenko die Meditation nicht in Träumerei versinken lässt, sondern sie mit wacher Geste intensiv gestaltet.
Das ebenfalls sehr reflektive Klavierwerk ‘Preludes to Sonnets’ wird vom Pianisten Anton Batagiov gespielt. Es wurde von Rainer Maria Rilkes ‘Die Sonette an Orpheus’ inspiriert.
Das letzte Werk der CD ist das ‘Konzert für die Dreizehn’, ein Ensemble von Blasinstrumente, Klavier und Schlagzeug. Es ist das früheste Werk und auch das klanglich modernste, aber dennoch durchaus attraktiv und zugänglich.
Die zuletzt veröffentlichte CD beginnt mit ‘In Memoriam’ einem Werk, das später in die 2. Symphonie integriert wurde, hier aber in seiner Originalfassung zu hören ist, mit dem exzellenten Geiger Oleh Krysa und den von Dmitrij Kitajenko kraft- und ausdrucksvoll (und daher nie resignativ) dirigierten Moskauer Philharmonikern.
Die dreiteiligen ‘Lamentations’ sind ein Nebenprodukt des Requiems für Orgel und Orchester, in dem der Komponist die Chorpartien der Orgel übertragen hat. Dmitrij Kitajenko hat den transzendental-mysteriösen Charakter des Stücks wunderbar erfasst und vermittelt ihn aufs Feinste verarbeitet, eindringlich, aber ohne Pathos, mit einer permanent zu spürenden künstlerische Spannung, wodurch die Musik in einer mystischen Spiritualität aufleuchtet.
‘Pieta’ für Cello und Orchester (1996) Schilder ein Bildnis der Jungfrau Maria, die den Leichnam Jesu hält und stellt das Bild mit ebenso viel Energie wie Emotion und Leid vor. ‘Tristia 1’ für Klavier, Streicher Trompete und Vibraphon ist eine Trauermusik über das Leben, das langsam dem Tod entgegengeht. Es ist dies ein wunderschönes Stück, leise und kammermusikalisch transparent, immer latent gespannt.