Mit einem Demokratie-Konzert ist in Leipzig die 244. Saison des Gewandhausorchesters eröffnet worden. Das älteste bürgerliche Orchester der Welt brach damit in ungebrochener Kontinuität in die Welten der Musik auf. Michael Oehme berichtet.
743 hatten Leipziger Kaufleute die ‘Großen Musicalischen Concerte’ ins Leben gerufen. Der Saal in den Tuchhallen als Spielstätte ab 1781 gab dem Orchester seinen bis heute unverwechselbaren Namen.
Seit einigen Jahren sind Wortmeldungen prominenter Stimmen aus Kultur und Gesellschaft Bestandteil der Eröffnungskonzerte. In diesem Jahr war es der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, der unter dem Motto ‘Vielstimmigkeit’ den unermesslichen, von der ganzen Welt geschätzten Reichtum deutscher Kultur und Musik beschwor, der wiederum nicht erst seit Bach und Goethe immer wieder von fremden Einflüssen beflügelt wurde. In seiner feinsinnigen Rede betonte Kermani aber ebenso, welcher Zerbrechlichkeit derartige Werte gegenwärtig ausgesetzt sind.
Vorausgegangen war ein Seestück für Streicher des in Leipzig viel gespielten englischen Komponisten Thomas Adès – gedacht vielleicht als Hommage an den derzeit hoch gefeierten Caspar David Friedrich, stimmungsvolle gefällige Musik, aber auch nicht mehr.
Dann Mozart, das Klavierkonzert C-Dur, KV 503. Daniil Trifonov, Andris Nelsons und das Gewandhausorchester waren damit zuvor in Essen, Köln und Luzern zu Gast. Mozart hat es 1789 komponiert. In das gleiche Jahr fiel sein Besuch in Leipzig, wo er das Konzert mit den Gewandhausmusikern gespielt haben soll. Trifonov überraschte mit einem ganz leichten, glasklaren, hellen Klavierspiel, voller Wärme aber auch, sehr zum genauen Hinhören im großen Auditorium! Nur in seinen von ihm selbst stammenden Kadenzen wurde Trifonov vollgriffiger und in der Moll-Episode im Finale erlaubte er sich eine romantische Dehnung. Dezent aber überzeugend erwiderten Nelsons und das Gewandhausorchester mit eigenen Akzenten. Wunderbar hier die Holzbläserinnen.
Zwei Tage nur lag Anton Bruckners 200. Geburtstag vor diesem Konzerttermin. Andris Nelsons hatte die 6. Symphonie ausgewählt. Das Gewandhausorchester darf sich zurecht als Bruckner-Orchester bezeichnen. Arthur Nikisch hatte 1884 die Siebte uraufgeführt und damit dem Komponisten zum endgültigen Durchbruch verholfen. Nikisch auch dirigierte 1920 den weltweit ersten Bruckner-Zyklus. Gewandhauskapellmeister wie Bruno Walter, Hermann Abendroth, Franz Konwitschny, Kurt Masur und Herbert Blomstedt gelten bis heute als große Bruckner-Interpreten.
Andris Nelsons’ Sechste unterstrich noch einmal mehr den Ruf Bruckners als Meister der Kontraste. Geradezu martialisch, ja manchmal etwas zu schrill brachen die Blechbläserchöre hinein. Wie einzelne Register verdeutlichten die einzelnen Instrumentengruppen mit ihren Klangfarben den österreichischen Orgelmeister. Im Andante fand Nelsons zu großer Innerlichkeit. Regelrecht auf die Spitze treibt es Bruckner im Finale. Fast grotesk wirken manche Einbrüche und Abbrüche. Die Generalpausen lassen den Atem stocken. Doch die Musik findet in der Partitur zum krönenden Abschluss. Nelsons blieb in dieser Aufführung Bruckner nichts schuldig. Großer Jubel im Gewandhaus, Bravi für einzelne Instrumente, insbesondere für die Solooboistin, den Solopauker und die Trompeten.
Bruckner wird es in der neuen Gewandhaus-Spielzeit noch zweimal geben: noch im September die 8. und im nächsten April die 7. Symphonie, beide mit dem 97-jährigen Herbert Blomstedt. Ein Wagnis? Ansonsten Gastdirigenten und -solisten wie Semyon Bychkov, Sakari Oramo, Antonio Pappano, Franz Welser Möst, Tugan Sokhiev, Pierre-Laurent Aimard, Leif Ove Andsnes, Isabelle Faust, Gidon Kremer und Frank Peter Zimmermann, um nur einige Namen zu nennen. Raritäten wie das Konzert für Klavier und Orchester von Ferruccio Busoni oder die 4. Symphonie von Grazyna Bacewicz lassen schöne Erwartungen aufkeimen. Das Ganze Programm ist umgeben von einer Fülle an Kammer, Chor- und Orgelkonzerten sowie Klavierabenden. Und dann richtet sich alle Aufmerksamkeit auf den 50. Todestag von Dmitri Shostakovich. Zusammen mit dem Boston Symphony Orchestra wird das Gewandhaus im Mai 2025 ein Internationales Shostakovich-Festival mit dem Gesamtwerk des Komponisten ausrichten. Nur in Leipzig hat es etwas Vergleichbares schon einmal gegeben. Initiiert von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur fand hier in zwei Spielzeiten von 1976 bis 1978 die weltweit erst zyklische Aufführung aller fünfzehn Sinfonien von Dmitri Shostakovich statt.