Melodiya, das sowjetische und nun russische Musiklabel ‘par excellence’ feiert sein 50. Jubiläum und bietet gleich eine musikalische ‘Sensation’: Vier CDs mit Schubert-Werken, live gespielt von Svjatoslav Teofilovich Richter, dessen 100. Geburtstag die Musikwelt am kommenden 20. März 1915 feiern wird. Hoffen wir nur, dass noch weitere musikalische Überraschungen auf uns warten werden.
Eines muss man nämlich sagen. Richter ist einer der außer- und ungewöhnlichsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, der wesentlich dazu beigetragen hat, unser Denken um das Instrument und das Klavierspiel zu verändern.
Weiß man dann noch um die Bedeutung, die Franz Schubert für ihn sein Leben lang hatte, so sollte man bereits jetzt sagen, dass diese Box mit vier CD in keiner ernsthaften Sammlung fehlen darf.
Gewiss, die Tonqualität ist nicht optimal, auch gibt es leider störendes Husten und andere unmusikalische Geräusche, was uns daran gehindert hat, der Ausgabe unser ‘Supersonic’ zukommen zu lassen.
Und doch, dies ist eine wichtige Edition! Sie hilft uns, unser Denken um Schubert zu vertiefen. Wir haben es mit Recitals zu tun, die alle im Moskauer Konservatorium gegeben wurden. Die erste CD ist ein Konzertabend vom 18. Oktober 1978 zum 150. Todestag von Schubert, der allerdings auf den 19. November fällt. Er enthält die Sonaten 6 in e-Moll, 11 in f-Moll und 13 in A-Dur. Der e-Moll-Sonate gibt Richter hier vier Sätze, indem er als Finale das Rondo D. 506 anfügt. Die gleiche Sonate spielt er im Konzert vom 2. Mai 1978 zum 90. Geburtstag des großen Heinrich Neuhaus ohne das Rondo D. 506 und mit dem Scherzo als 2. Satz, wobei die ersten beiden Sätze zügiger, das Allegretto langsamer gespielt wird. Ebenfalls auf dieser CD ist eine faszinierende Deutung der Sonate 18 in G-Dur D. 894 zu hören, da man eine Interpretenpersönlichkeit erlebt, die sich zutiefst mit dieser Musik auseinandersetzt, sie auslotet, sie mit allen Widerholungen ausschöpft. Besonders bemerkenswert ist seine Deutung der H-Dur-Sonate D. 575 und der c-Moll-Sonate D. 958. Letztere bringt alles an Kraft und Emotion zum Ausdruck, und das finale Allegro ist einfach hinreißend. Dies sind Deutungen, die Schubert als einen virilen, vom Leben gezeichneten Meister darstellen, der ohne Larmoyanz auskommt. Und das tut gut!
Die letzte CD stellt Zugaben vor aus Konzerten vom 2. Mai 1978 mit u. a. dem Allegretto c-Moll D. 915 und drei Moments musicaux… Warum nur drei? Und warum im Konzert vom 3. Mai der nicht sehr eindrucksvollen Marsch E-Dur D. 606 und dann die großartigen Impromptus 2 und 4 aus D. 899. Wie gerne hätte man doch alle vier gehört, zumal auf dieser CD auch Impromptu 3, aufgenommen im Konzert vom 18. Oktober 1978, eingespielt ist.
Nun, eigenwillig ist Richter immer gewesen. Das hat ihn denn auch dazu verleitet, kurze Stücke: Ecossaisen, Ländler oder Deutsche Tänze nicht in der von Schubert aufgestellten Reihenfolge zu spielen, sondern so wie er ihre Zusammenhänge sieht. Das ist gewiss faszinierend, doch entspricht es dem Willen ihres Schöpfers? Darüber kann man gewiss diskutieren. Unbestritten ist jedoch die Intelligenz des Interpreten bei der Zusammenstellung dieser Kostbarkeiten, die neue Perspektiven zum Verständnis Schuberts eröffnen.
This is a highly valuable Richter box with performances which open new perspectives to the comprehension of Schubert’s music.