Bereits die zweite Veröffentlichung des Wozzeck nach https://www.pizzicato.lu/spannend-expressiver-wozzeck-aus-frankfurt/ innerhalb weniger Monate zeigt, dass dieses Werk einen hohen Stellenwert genießt. Der Dirigent Marc Albrecht lässt das Philharmonische Orchester der Niederlande groß aufspielen. Wobei sich das auf die Qualität mit expressiver und glasklarer Gestaltung bezieht, nicht auf das reine Volumen. Dieser Beitrag liefert mit messerscharfer rhythmischer Akkuratesse also eine sehr positive Komponente zu dieser Fassung der Oper. Vielleicht hätte man sich trotz Berg punktuell etwas mehr Wärme vorstellen können.
Ebenso sind Chor und Gesangssolisten als vorzüglich zu loben. Der Wozzeck von Christopher Maltman, ein sonorer Bariton, kann locker den Orchestersturm reiten, aber bei Bedarf stimmlich auch flüstern. Zudem gelingt ihm die Verkörperung des unseligen Antihelden, denn er kann einiges von der Hilflosigkeit und Dumpfheit des Wozzeck vermitteln. Eine erotische, um nicht zu sagen, in rotem Leder und schwarzem Lack dirnenhaft wirkende Marie, ist Eva-Maria Westbroek, die mit leuchtendem Sopran und aufregenden Spitzentönen ihre Gefühle ausdrückt. Das Kind der beiden ist der phänomenal aufspielende Jacob Jutte. Im zarten Bühnenalter wird ihm viel abverlangt, aber auch den Kindern, die sich mit Walzer und Cha Cha Cha in Robe im Turniertanz üben.
Der Tambourmajor Frank van Aken darf auch ohne Uniform protzen, und ist auch im blauen Anzug und dazu noch als Tenor einnehmend anzusehen und anzuhören. Willard White als fieser Doktor überzeugt als Sänger, wenn auch eigentlich seine Stimme und sein Agieren in dieser Rolle zu warm, sanft und schön sein mögen. Der Hauptmann von Marcel Beekman füllt als scharfer Sänger und Agierender mit Charaktertenor das Bild deutlich besser. In weiteren Rollen überzeugen die zickende Nachbarin und Nachtclubsängerin Ursula Hesse von den Steinen und Jason Bridges als Andres.
Woran sich die Geister sicherlich scheiden können, ist die Regie. Krzysztof Warlikowski siedelt in seiner Regie das Geschehen knapp ein halbes Jahrhundert nach Entstehung der Oper in den Sechzigern an. Dabei mag ich gar nicht über feine Unstimmigkeiten richten, denn diese können als künstlerische Freiheit gewertet werden. Dazu gehören der etwa zehnjährige Sohn aus der gerade einmal nur wenige Jahre bestehenden Beziehung oder der Teich der Vorlage, der hier zum Aquarium wird. Gerade letzteren Schwenk finde ich sogar gelungen, um das Unzeigbare anzudeuten.
Aber andere Gestaltungen zeugen von einer sehr freien Erzählweise. Der Sohn nimmt am Bühnengeschehen, zumeist zwar still am Rande oder im Hintergrund, aber fast ständig Teil, und bleibt trotzdem unfassbar. Das Kind führt hier ein ganz eigenes Leben, tritt selbst vor den Vorhang und rezitiert das Märchen, das ihm die Mutter vorlesen wird. Immer wieder schaut er zu und wird damit zum Voyeur. Er ist ein Außenseiter. Mit dieser neuen Hauptfigur wird der Blickwinkel verändert.
Denn damit wird von den Umständen der verlogenen Moral, die Wozzeck in die Ecke drückt und zerquetscht, auf die prekären Familienverhältnisse geblickt. So zeigt das Bild kein soziales Elend, wenn Wozzeck der Marie im schwarzen Anzug gegenübertritt und der Untreuen ein weißes Brautkleid aus Spitze mitbringt, um sie dann zu ermorden.
Im Bühnenbild von Malgorzata Scszesniak wird aus dem Soldaten Wozzeck ein Friseur, werden aus Handwerkern und Soldaten Mitglieder einer feiernden feinen Gesellschaft, die sich von einem Kinderballett, von einem Transvestiten und einer Art Clown zu Volksliedern unterhalten lässt. Das ist zwar alles aufsehenerregend. Es hat mit der Vorlage jedoch nur den Wortlaut gemeinsam, schafft aber eine andere Atmosphäre. Und die Wozzeck unheimlich wirkende Natur in der zweiten und in der Schlussszene entfällt so ganz. Oder Warlikowski wollte damit die Entfremdung von eben der Natur darstellen?
Wer seinen Geist gerne mit diskussionswürdigen Deutungen anregt, sollte sich die Aufnahme gönnen.