2010 wurden in der hintersten Ecke des Kellers unter dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel zwei Kartons entdeckt, in denen sich der Nachlass des russischen Komponisten Evgeny Gunst befand. Ein wichtiger Fund, wie diese CD beweist.
Gunst wuchs als Sohn des deutsch-russischen Staatsrates Otto Karl Gunst in Moskau auf. Er studierte Jura und Komposition, Theorie und Klavier. Er erhielt auch Privatunterricht bei Reinhold Glière und Alexander Goldenweiser. 1909 war er Gründungsmitglied der Moskauer Kammermusik-Gesellschaft (u.a. mit Rachmaninov, Scriabin, Glasunov und Tanejew). Er war zunächst als Jurist, dann als Musiker, während des Ersten Weltkrieges jedoch wiederum als Jurist tätig. Nach Kriegsende wurde Gunst ans Staatskonservatorium von Nischni Nowgorod berufen, wo er zuerst als Dozent für Musikgeschichte wirkte und später zum Konservatoriumsdirektor ernannt wurde. 1920 emigrierte er nach Frankreich, wo er – zeitweise in ärmlichen Verhältnissen – den Rest seines Lebens verbrachte. Er verstarb 1950 in Paris im Alter von 72 Jahren.
Als Komponist war er in Russland ein Avantgardist, genau wie Scriabin, dessen enger Vertrauter er war. Und seine Musik weist zweifellos eine gewisse Nähe zu Scriabin auf. Sie hat insbesondere dessen spezifische Ausdruckskraft, auch wenn Scriabin beim Hörer Sinnesempfindungen meistens auslöst, ohne so konkrete Bezeichnungen zu benutzen wie Gunst, der den drei Teilen der ‘Heidelberger Skizzen’ die Titel ‘Das Schloss. Misterioso’, ‘Das Neckartal. Mormorando’ und ‘Im Untergeschosse. Das große Fass. Deciso’ gab. Auch seine ‘Danses fantasques’ (Sylphes, Géants, Gnomes….) oder die ’12 Miniatures’ (Marionnette, Quand il pleut…, Feuilles d’autuome, Les guêpes) beschreiben, was die Musik darstellen soll. Dennoch sind wir weit entfernt von ‘Bildern’, wie sie etwa Mussorgski schuf. Gunsts Musik kann man mit dem Symbolismus und dem Impressionismus verbinden, weil sie die Titel nur zur Schaffung von Sinnbildern benutzt und die naturalistischen Bezeichnungen ästhetisch schönt und idealisiert – sehr gut nachzuvollziehen in ‘Les Géants’. Die Verknüpfung von verschiednen Bewegungsabläufen führt oft auch zu einer geheimnisvollen Wirkung der Musik, ohne jedoch auch nur annähernd mystische Dimensionen zu erreichen, wie sie bei Scriabin zu finden sind. Geblieben aber ist die Umgestaltung der Wirklichkeit in etwas Schönes und Positives. Dass Kunst das auch in Zeiten schaffte, wo es ihm schlecht ging und wo sich in der Welt alles andere als Positives abzeichnete, zeigt, wie nahe er als Künstler den Idealen des Symbolismus war.
Dass Susanne Lang eine ausgezeichnete Musikerin ist, um die Musik von Evgeny (oder Eugène) Gunst zum Ausdruck zu bringen, hört man, und es wird auch ersichtlich aus dem, was die Pianisten als Einleitung auf ihrer Webseite schreibt: « Literatur, Malerei oder auch nur ein Spaziergang in der Natur sind Atem für meine Seele. Nichts aber inspiriert mich mehr als die Musik. Meine Aufgabe als Pianistin sehe ich darin, den Noten im Sinne des Komponisten Gestalt und Ausdruck zu geben. So ist die Musik ständige Zwiesprache. Früher dachte ich, ich forme die Musik. Inzwischen verhält es sich umgekehrt: Sie formt mich. Sie gibt mir Kraft, Freude, Zufriedenheit, innere Freiheit, Mut, Trost und Hoffnung. Die Musik erfüllt mich und macht mein Leben reich. »
Die 1986 in Deutschland geborene und heute in Basel lebende Susanne Lang kann in ihrem Spiel die Sinnesreize von Gunsts Musik voll zur Wirkung bringen, es gelingt ihr, über das Illustrative hinaus, die Musik auf eine höhere Ebene zu transportieren und ihr so Erlebniskraft zu geben. Und das ist ihr Rezital, ein Erlebnis, auch nach der ersten Entdeckung, beim zweiten und beim dritten Abhören des Programms. Somit ist diese Produktion von Oehms Classics nicht nur ‘der Gunst des Augenblicks’, sondern etwas dauerhaft Wertvolles in jeder Schallplattensammlung.
This CD is not only a pleasant discovery of forgotten music which one would hear and not miss later anymore. Gunst’s works have the power of durable life, especially when played so expressively as it is done by Susanne Lang.