Diese Gesamteinspielung der Beethoven-Symphonien entstand im Rahmen des Europäischen Musikfestes 2002. Sie wurde in der damals noch verfügbaren Druckausgabe von Pizzicato von unsrem Mitarbeiter Guy Wagner besprochen. Dieser Rezension ist heute nichts hinzuzufügen, außer, dass Norrington seither einige Nachfolger gefunden hat, die in eine ähnliche Richtungen tendieren wie er, etwa Emmanuel Krivine mit seiner Chambre Philharmonique oder Adam Fischer mit dem Danish Chamber Orchester (Rezension). Hier ist Guy Wagners Rezension.
Norrington, der 1987 mit seiner Einspielung mit den London Classical Players zum ersten Male auf historischen Instrumenten und mit einer radikalen Infragestellung der Tempi, für Furore und leidenschaftliche Auseinandersetzungen gesorgt hatte, hat nun wieder die Grenzlinien der so genannten ‘historischen Aufführungspraxis’ weiter nach vorne verlegt, unter anderen Bedingungen.
Diesmal nämlich spielt ein traditionsreiches Symphonieorchester Beethovens Symphonien auf modernen Instrumenten. Trompeten, Posaunen, Pauken klingen allerdings ‘historisch’ und die Streicher spielen ohne Vibrato. Die Darbietung aber erfolgt nach dem neuesten Stand der Erkenntnis der geschichtlichen Aufführungspraxis, und so wie wir Norringtons aktuelle Annäherung an diesen symphonischen Kosmos verstanden haben, spielt für ihn die Wahl der Instrumente nur noch eine untergeordnete Rolle. Wie man aber die Instrumente spielt, darauf kommt es ihm an!
Das Konzept von Sir Roger Norrington, der von der historischen Aufführungspraxis herkommt, wird konsequent durchgesetzt: Klare Artikulation, exakte Phrasierung, große Dynamik, Tempi, die sich aus der Analyse des Dirigenten ergeben, gewaltige Crescendi. Das Ergebnis ist beachtenswert. Auch wer mehrere Einspielungen der Symphonien Beethovens kennt, wird zugeben müssen, selten so spannungsgeladene Interpretationen gehört zu haben, mit so viel Dramatik, Aggressivität und innerer Kraft, zugleich aber auch so viel Witz, Geist und Humor. Auch Norringtons Gespür für das Ungehörte und Unerhörte dieser Musik ist außergewöhnlich, und sein Können, es herauszuschälen und zu verdeutlichen, nicht minder. Er tut es mit schneidender Radikalität. Das wiederum tut dem Energiespender Beethoven gut.
Es bekommt vor allem den beiden ersten Symphonien, die man selten so sprühend und funkelnd, aber auch so stürmend und drängend und zugleich so schön ziseliert gehört hat. So weisen sie den Weg aus der Tradition des 18. Jahrhunderts. Herrlich und kostbar ist die Deutung der Symphonie Nr. 4. Sie erhält eine optimale Umsetzung, die ich als die faszinierendste dieser Integrale bewerte. Ebenso schält Norrington die Poesie und Durchsichtigkeit der ‘Pastorale’ meisterlich heraus. Sie hat Atmosphäre und ist wundervoll beseelt. Auch die Dynamik und der beißende Witz der Achten sind einmalig und ein regelrechter Geniestreich.
Und dann bleiben noch die vier großen mit ungerader Zahl. Nummer Sieben ist relativ gutgeglückt: Der berühmte, da so gefährliche Übergang zum Vivace im ersten Satz bietet eine überraschend einleuchtende Lösung, der 3. Satz hat echte Brillanz und das Finale Allegro con brio hat tatsächlich Brio und berstende Energie. Nicht einverstanden aber kann ich mit dem gehetzten Allegretto sein, das Norrington in 6’39 herunterspult, was ihm keine Zeit lässt, seine innere Schönheit offen zu legen.
Die Eroica ihrerseits beginnt, als wären die Bläser kurzatmig, und dann scheint Norrington davonzurasen, aber das nur, weil seine Akzentuierungen so knapp und brutal sind, denn im Zeitmaß ist er fast identisch mit Harnoncourt und Zinman, aber auch mit einem ‘klassischen’ Dirigenten wie Ferencsik. Dann aber wird der Trauermarsch so radikal vorangetrieben, dass die Klimax keine ist und auch keine Zeit zum Verweilen bleibt, nicht einmal zum Nachdenken über das, was der Maestro will. Wieder zum Vergleich: Ferencsik: 16’12, Harnoncourt: 14’35, Zinman: 12’58, Norrington: 12’18, der auch im letzten Satz viel schneller ist als diese Kollegen und es so den Variationen ebenfalls unmöglich macht, sich zu entfalten.
Ähnliches gilt für die Fünfte, die ‘Schicksalssymphonie’, von Norrington als ‘erzählend-dramatisch’ bezeichnet, aber so wie er sie zu Recht charakterisiert, wirkt sie nicht bei ihm. Im Gegenteil, die innere Dramatik kann sich nicht aufbauen und zur Befreiung werden.
Die Neunte, in d-Moll op. 125, erklingt in der Urtextausgabe von Jonathan Del Mar. Der Dirigent hat sich intensiv mit der historischen Substanz auseinandergesetzt, was dazu führt, dass es gerade die Temporelationen sind, die zwischen den einzelnen Sätzen neu festgelegt wurden. Die erfordern nun eine besonders eindeutige Artikulation und Phrasierung, eine besonders deutlich heraus geschälte Dynamik und eine besonders klare Profilierung und Abstimmung der einzelnen Instrumentengruppen. Konsequenz: In dieser Interpretation gibt es nichts Nebensächliches, alle Details sind gleichwertig und eingefügt in das große Ganze, das dann eben mehr ist als die Summe der Details. Man höre sich nur den Beginn des ‘Adagio molto e cantabile’ an: Wie Norrington hier die Gewichtungen zwischen den einzelnen Stimmen festlegt, das ist unerhört, oder vielmehr ungehört, inklusive der Widersprüche, die eine solche Deutung notwendigerweise mit sich bringt und die vor allem die Wahl der Tempi betrifft. Sie können manchmal bis oft als zu schnell angesehen werden, andrerseits aber auch wieder sehr bis stark zurückhaltend, damit jede Einzelheit heraus gehört werden kann.
Klar, Norringtons Neunte ist gewöhnungsbedürftig, bietet aber dafür so viele neue und originelle und vor allem konsequente und auch überzeugende Einblicke in die schöpferische Entstehung der Musik, dass sie schon dadurch zum Lehrbeispiel wird.
Gerade im Finalsatz mit der ‘Ode an die Freude’ wird vieles auf neue Art einsichtig und auch verständlich. Man höre nur, wie unwirsch die Wiederholung des vorherigen Themenmaterials abgetan wird, wie wundervoll durchsichtig der Instrumentalteppich unter dem Vokalquartett – Camilla Nylund (mit leider etwas zuviel Vibrato), Iris Vermillion, Jonas Kaufmann, sowie dem außerordentlichen Franz-Josef Selig – ausgebreitet ist bis zu ‘Und der Cherub steht vor Gott’, wie konsequent der folgende Marsch als solcher durchgezogen wird und wie sich die Steigerung der Solisten und der hervorragenden Chöre der Gächinger Kantorei aufbaut, um in der Meditation zu ‘Über Sternen muss er wohnen’ regelrecht zu versinken: grandios!
Eine Meisterleistung der Tontechniker soll nicht verschwiegen werden: die Liveaufnahmen, die man eigentlich nur am Publikkumsapplaus erkennt wirkend verblüffend natürlich.