Das Ereignis der Osterfestspiele Baden-Baden ist ohne Zweifel die einwöchige Residenz der Berliner Philharmoniker mit Konzerten, Opernaufführungen und Kammermusik. Besonders hohe Erwartungen hatte man für die Neuinszenierung der Richard Strauss-Oper Elektra durch Philipp Stölzl in Zusammenarbeit mit Philipp M. Krenn entgegen. Alain Steffen hatte sich die Vorstellung vom 26. März angesehen.
Ein Streitpunkt bei dieser Inszenierung ist die permanente Projektion des gesungen Librettos, was natürlich von der Handlung ablenken kan. Hat man sich aber daran gewohnt, dann ist das doch ein interessantes Stilmittel, um die Wichtigkeit der Worte und vor allem ihrer Bedeutung in einen besonderen Kontext zu setzen. Oft wird so viel gleichzeitig gesungen, dass der Text mal oben, mal unten, mal recht, mal links, mal groß, mal klein oder gar übergeblendet zu einem einzigen Wirrwarr wird, so wie die Emotionen der Figuren. Zudem wird der projizierte Text oft so eingesetzt wie bei einem Stummfilm und auch die Szenerie und die Kostüme erinnern mehr als einmal an die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts, wobei Orest wie verstümmelter Soldat des 1. Weltkriegs aussieht. Das einheitliche Szenenbild ist in seiner Schlichtheit genial. Eine monumentale Treppe, deren Stufen sich permanent verschieben und sie so zu einer riesigen, grauen Mauer, ja zu einem Kerker werden lassen, bestimmt das Geschehen. Das ist von Stölzl sehr eindrucksvoll gemacht und verlangt den Sängern, vor allem den drei Hauptprotagonistinnen einiges ab, die oft in kriechender, schlurfender oder gebückter Haltung singen müssen. Einzig die Ermordung Aeghists wird zu einem Akt der Peinlichkeit und steht dem grenzenlosen Hass und den Rachegefühlen von Elektra und ihrem Bruder Orest dramaturgisch diametral gegenüber. Das ist schlechtes Bauerntheater und nimmt dieser doch sonst stringent erzählten Geschichte einiges an Intensität. Sicher, Stölzl erfindet die Geschichte nicht neu und die Personenregie ist recht klassisch. Das stört aber nicht, im Gegenteil. Der Regisseur erzählt Elektra als einen spannenden Rachethriller, bei dem es am Ende nur Verlierer und Tote gibt. So liest man am Schluss in blutroten Buchstaben: “Diese Zeit, sie dehnt sich vor uns, wie ein finsterer Schlund.“ Eine Elektra, die einem sich nicht sofort erschließt und deren Wirkung man mit nach Hause nimmt. Genauso wie verschiedene projezierte Worte, die sich tief in das Unterbewusstsein eingebrannt haben.
Nichts zu diskutieren oder gar zu bemängeln gab es beim Musikalischen. Was Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker im Orchestergraben veranstalteten, war großartig. Der Klang war enorm wuchtig, akzentreich und hochexpressiv. Quasi atemlos stürmte die Musik, hysterisch aufgepeitscht, nach vorne. Nur manchmal erklangen zarte, beseelte Momente und diese haben dann eine doppelte Wirkung. Man kann es Petrenko nur danken, dass er dieser orchestralen Orgiastik immer wieder eine schwebende, klare und transparente Durchsichtigkeit gegenüberstellte. Dabei vergaß er nie, die Sänger optimal zu unterstützen und zu tragen, ohne sie jemals zuzudecken. Das war ganz großes dirigentisches Können.
Den Sängern machte es hörbar Vergnügen, an ihre Grenzen zu gegen. Michaela Schuster war eine gequälte und in sich gefangene Klytämnestra, glaubhaft in ihrer Zerrissenheit und stimmlich einwandfrei. Ein großen Eindruck hinterliess auch Elza van den Heever als Chrysothemis. Ihre prächtige und ausdrucksstarke Stimme zeichnete eine „erwachsene und gereifte“ Schwester, die in jedem Moment die Tragik der Situation erkannte und einmal nicht als sensibles Dummerchen dargestellt wurde. Bis an ihre Grenzen ging auch Nina Stemme in der Titelrolle. Sie ist es würdig, in einem Atemzug mit ihren großen Vorgängerinnen Christl Goltz, Inge Borkh, Birgit Nilsson oder Gwyneth Jones genannt zu werden.
Neben diesen drei hochkarätigen und stimmpotenten Sängerinnen hatten es die beiden männlichen Rollen nicht einfach. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke sang die Rolle des Aeghist ohne Hysterie, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Leider wurde seine Ermordung von Stölzl schlecht in Szene gesetzt, so dass sein kurzer Auftritt irgendwie wirkungslos verpuffte. Johan Reuter sang einen sonoren Orest und war um psychologische Charakterisierung der Figur bemüht. Das Zusammenspiel mit Nina Stemma funktionierte zudem hervorragend. Am Schluss gab es massive Buh-Rufe für eine Inszenierung, die weitaus mehr Stärken als Schwächen hat und donnernden Applaus für alle Mitwirkenden, und besonders für Nina Stemme, Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker.