Im letzten Konzert der dieser Spielzeit in der Luxemburger Philharmonie spielte der britisch-israelische Pianist Evgeny Kissin und zeigte Klavierkunst auf allerhöchstem Niveau. Alain Steffen berichtet.
Was müssen sich die Gestalter der Abendprogramme doch alles einfallen lassen, um einem Konzert ein dramaturgisch passenden Titel zu geben. Das Kissin-Konzert fand somit unter dem alles und nichtssagenden Titel ‘100 years with the great pianists“’ statt. Nun, die Pianisten, die ins Feld geführt wurden, waren Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Johannes Brahms und Serge Prokofiev. Die voll besetzte Philharmonie erlebte ein Konzert von seltener Intensität, Emotionalität und stilistischer Perfektion. Evgeny Kissin begann sein Rezital mit Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 27, einem Werk, das im Schatten der gewaltigen letzten drei Sonaten steht, doch nicht uninteressant ist. Das Publikum hörte einen ungemein leichten Beethoven, der ganz deutlich bereits romantische Züge vorausnahm und in seinem zweiten Satz Rondo an Schuberts liedhaften Melodienreichtum erinnerte. Kissin spielte die Sonate sehr feinsinnig, was dem eher kompakt wirkenden zweisätzigen Werk sehr entgegenkam. In seinem Spiel betonte Kissin das Episodenhafte, so dass die oft gegensätzlich wirkenden Ideen messerscharf zur Geltung kamen. Dank seiner starken linken Hand erhielt das Werk dann auch noch eine ganz besondere Dynamik, die Beethovens Kunst sehr schön auslotete. Nach dem gesanglichen Rondo folgten das ebenfalls gesanglich wirkende Nocturne op. 48 Nr. 2 von Chopin, das Kissin als einen hervorragenden und gestaltungsfreudigen Interpreten auswies, der keine Sekunde dem Zufall überließ, sondern jeder wehmütigen Emotion nachspürte. Noch stärker traten die Schattierungen dann bei der folgenden Fantasie op. 49 auf, wie Beethovens Sonate ein Werk mit vielen verschiedenen musikalischen Abschnitten. Der trauermarschähnliche Beginn führte zu ruhigen und lebendigen, marschähnlichen und virtuos gestalteten Abschnitten, die von Kissin mit wunderbarer Ausgewogenheit und stilistischem Feingefühlt herausgearbeitet wurden.
Die vier Brahms-Balladen op. 10 besitzen bis auf die erste kein Programm und ermöglichen der Fantasie somit ein eigenes Szenario herzustellen. Auch hier bewährte sich wieder die wunderbar formende linke Hand von Kissin, die Brahms‘ ohnehin schon dunkle Balladen noch düsterer, noch tragischer und tiefer erschienen ließen. Kissin wählte dabei sehr ruhige, langsame Tempi und vermochte einen enormen Spannungsbogen zu schlagen.
Mit der virtuosen Aufführung von Prokofievs 2. Sonate konnte der Kontrast nicht größer sein. Allerdings besitzt dieses Werk, genau wie die vorhergegangenen, einen eher episodenhaften Charakter, weil jeder der vier Sätze grundverschiedene Facetten besitzt. Der erste Satz wechselt zwischen kühlen, analytischen und virtuos gespielten Momenten hin-und-her, der zweite begeistert durch rhythmische Prägnanz, der dritte ist ein introspektiver, fast romantischer langsamer Satz mit wunderbar zarten Melodien. Die Sonate schließt dann mit einem brillanten, wenn auch schroffen und akzentreichen Vivace. 1912 komponiert, bleibt die Sonate zwar zum Teil noch der Tradition verpflichtet, besitzt aber schon sehr starke Charakteristika des kommenden Modernismus.
Auch in diesem Werk glänzte Kissin mit einem überragenden und expressiven Spiel, das die Musik bis in die Extreme auslotete. Riesiger Jubel und minutenlange Standing Ovations feierten den britisch-israelischen Pianisten, der heute ohne Zweifel zu den wirklich großen Meistern seines Fachs gehört. Für den nicht enden wollenden Applaus bedankte sich Kissin dann mit drei ebenfalls bejubelten Zugaben.