Klavierwerke aus knapp 100 Jahren von 1828 bis 1921 nutzte Alexander Melnikov dazu, jeweils den passenden Flügel für den Vortrag auszuwählen. Mit welchem Klang und welcher Technik er dabei agieren konnte, berichtet Uwe Krusch für Pizzicato.
Zunächst kam mir ein Ereignis aus meiner Kindheit in Erinnerung, als ich beim Betreten des Saals die vier Klaviere auf der Bühne erblickte. Hatte damals doch eine Sitznachbarin in einem Konzert ganz enttäuscht gesagt, nachdem sie drei Streicherpulte und ein Piano auf der Bühne erblickt hatte, sie hätte beim angekündigten Klavierquartett mit vier Flügeln gerechnet. Jetzt erfüllte sich dieser Gedanke, nur anders. Schließlich widmete sich Melnikov den Instrumenten nacheinander und nicht gleichzeitig. Dieser Bühnenaufbau bot ein ebenso schönes wie beeindruckendes Bild – und, wie sich dann herausstellte, klanglich markant unterschiedliches Hören.
Melnikov setzte mit der Wandererfantasie von Franz Schubert ein im Geist der Romantik stehendes Stück an den Anfang, vor allem aber eines, das selbst mit dem besten Willen nicht als Einspielstück angesehen werden kann. Vielmehr stürzte er sich sofort in medias res. Man fragt sich unwillkürlich, wie es sein kann, dass in einem Werk eine solche Spannbreite an Stimmungen Platz findet und die technischen Anforderungen die gesamte Aufmerksamkeit erfordern. Aber Melnikov meisterte diese Aufgabe mit hellwacher und sensibler Contenance. Der für dieses Werk genutzte Nachbau eines Conrad Graf-Flügels, also eines Vertreters des Wiener Stils, ist komplett aus Holz geschaffenen und mit Wiener Mechanik ausgestattet, also beispielsweise mit Leder bezogenen Hammerköpfen. Der metallisch feine Klang bei klaren Bässen kennzeichnete den Stil und machte die Strukturen bei Schubert mit Feinheit deutlich.
Mit zwölf Etüden op. 10 von Frederic Chopin kam nicht nur ein anderer musikalischer Ansatz, sondern auch ein anderes Instrument, zum Einsatz. Zumindest diese Etüden von Chopin gehen in ihrer kurzen prägnanten Form und Ausgestaltung über Übungsstücke hinaus und stellen durchaus präsentable Konzertwerke dar, die zumal noch virtuose Elemente aufweisen. Melnikov wechselte hier an den Pleyel-Flügel, der dem Stil von Erard-Instrumenten, wie sie in England und Frankreich bevorzugt wurden, gleich. Mit Metallelementen im Rahmen und stärkerer Besaitung wird ein kräftiger Klang erzielt. Außerdem erhöht sich das virtuose Element, da schnelle Anschlagswiederholungen möglich sind. Melnikov überspielte auch bei diesen Etüden alle Herausforderungen mit Können und Musikalität, so dass dieser Zyklus eminent abwechslungsreich erblühte.
Nach der Pause standen nun die bereits vorgestellten Flügel im Bühnenhintergrund und die beiden weiteren harrten vorne auf ihr Erklingen. Mit den Reminiszenzen auf Don Juan von Mozart aus der Feder von Ferenc Liszt ging es erneut einen Schritt weiter. Der passende Flügel in diesem Kontext war der Julius Blüthner, bei dem u. a. Filzhämmer einen Teil der Weiterentwicklung ausmachen. Mit sehr lyrischen, aber, wie bei Liszt nicht anders zu erwarten, auch virtuosen Episoden, formte Melnikov ebenso dieses Werk überzeugend.
Für die letzten beiden Stücke gab es dann instrumentenseitig eine leichte Abweichung vom Prinzip. Da die weitere Entwicklung seit rund hundert Jahren nur noch für Spezialisten hörbare Nuancen zutage gefördert hat, bot Melnikov auf einem zeitgenössischen Steinway die beiden rund ein Jahrhundert alten Kompositionen, die Fantasie h-Moll von Aleksandr Scriabin und drei Stücke aus Petrouchka von Igor Strawinsky. Dem noch größeren und stärkeren Klang wurden die beiden gewählten Kompositionen durchaus gerecht, wobei auch leise und lyrische Spannen die Werke bereichern. Es handelte sich bei weitem nicht um kraftstrotzende Daueranspannung, sondern um durchaus auch variabel gestaltete Musik, was Melnikov ausdrucksvoll darstellen konnte.
Den überschwänglich andauernden Jubel des Publikums trotz bereits mehr als 90 Minuten Programm belohnte der nimmermüde wirkende Melnikov mit einem eher beruhigen Werk zum Ausklang, dem Intermezzo a-Moll aus den Fantasien op. 116 von Johannes Brahms, wozu er noch mal an den Blüthner zurückkehrte.
Wenn man im Rückblick Tabea Zimmermann, Patricia Kopatchinskaja mit Sol Gabetta und jetzt auch Melnikov sieht, die alle 90+ Minuten Programm als Solisten boten, merkt man, wie begierig sie darauf waren, wieder auftreten zu dürfen; und wohl auch wie ausgeruht, sich so umfangreiche Programme zumuten zu wollen. Und auch das Publikum dürstete, zeigte es doch in allen Fällen ebenfalls keine Ermüdungserscheinungen.