Zwei Gefühlswelten konnten die Hörer eines Konzerts des Estnischen Festival Orchesters zu Feier der 100-jährigen Unabhängigkeit Estlands für die Philharmonie in Luxemburg erleben, meint Uwe Krusch in seiner Konzertkritik.
2011 von seinem auch in der Philharmonie zu erlebenden Mentor Paavo Järvi gegründet, hat das Estnische Festival Orchester mit Sitz in Pärnu nunmehr seine erste Auslandreise mit rauschendem Beifall in Luxemburg beschlossen. Das Orchester besteht aus Musikern seines Staates, auch junge oder gereifte Studenten. Dazu kommen Gäste aus den Orchestern, denen Järvi durch seine frühere Tätigkeit verbunden ist, wie z. B. der Konzertmeister Florian Donderer der Kammerphilharmonie Bremen, der auch hier in dieser Rolle agiert.
Das Konzert begann ohne Aufwärmer direkt mit dem Violinkonzert von Johannes Brahms. Als Solistin hatten die Esten die russische Geigerin Viktoria Mullova mitgebracht. Zusammen zeichneten sie dann ein klassisch ausgewogenes Tongemälde. Und doch sprang der Funke zumindest nicht in den Zuschauerraum über. Alles war richtig und gut. Und trotzdem fehlte etwas, die Intensität, obwohl gerade bei dieser Künstlerin eine solche zu erwarten war. Bei der ersten Zugabe taten sich alle Beteiligten erneut zusammen und spielten die Passacaglia von Arvo Pärt. Dieser sich einfacher musikalischer Mittel bedienende Komponist erzeugt mit seinen Werken trotzdem vom ersten Ton an einen magischen Sog, der die Zuhörer umhüllt.
Mit dem Cantus in Memoriam Benjamin Britten knüpfte man nach der Pause wieder bei Pärt an. Dieses kurze, sich aus permanent fließenden Linien entwickelnde Streichergespinst erinnert an die Metamorphosen von Strauss und das Adagietto von Mahler. Alle absteigenden Skalen sind bei Pärt auf den Ton a gerichtet, in dem auch die Röhrenglocke gestimmt ist, die den Zeitenlauf und damit Kommen und Gehen markiert.
Hauptwerk des Abends war dann die Sechste Symphonie von Dmitri Shostakovich. Dieses mit einer halbe Stunde Dauer relativ kurze symphonische Werk mit der Bezugstonart h-Moll beginnt in der düsteren Stimmung des Memoriams. Spätestens aber im dritten Satz entwickelt diese Symphonie eine für Shostakovich ungewohnte Heiterkeit. Ein Werk des Großmeisters der Symphonie für das zwanzigste Jahrhundert stellt an das Orchester nicht gerade geringe Anforderungen. Sowohl technisch rhythmisch als auch im zwanzigminütigen Kopfsatz vom musikalischen Bogen her müssen sich Dirigent und Orchester großen Aufgaben stellen. Dass eine solche Aufgabe einem ausgewiesenen Orchestererzieher wie Paavo Järvi, übrigens zurzeit ‘Artist in Residence’ der Philharmonie Luxemburg, ein Leichtes ist, war zu erwarten. Dass aber auch das junge und jugendlich besetzte Orchester einer solchen Aufgabe in so einer mitreißenden und überwältigenden Manier gewachsen ist, war nicht selbstverständlich. Feine Soli, insbesondere in den Holzbläsern und ein ausgereiftes energiegeladenes und auch kammermusikalisch ausgereiftes Miteinander aller Orchestergruppen bezeugen die kreative Inspiration des Kurortes Pärnu und der Familie Järvi, die dort ihren Sommersitz hat.
Als ob nach diesem rauschenden Orchesterfest die freudestrahlenden Gesichter auf beiden Seiten, auf und vor der Bühne, noch nicht ausreichten, wurden zwei Zugaben gereicht, die an geistiger und technischer Spannung und zirzensischem Können noch einmal alles forderten. Insbesondere der Walzer von Lepo Sumera mit seinem an Shostakovich Walzern gleichen Raffinement und der Delikatesse von Komposition und Darbietung, auch durch die Soli von Florian Donderer, setzte noch ein Trüffelhäubchen auf die ohnehin großartige Darbietung.
Järvi hat mit dem ‘Estonian Festival Orchestra’ die Sechste von Shostakovich auch aufgenommen. Die Rezension der CD lesen sie hier.